Donnerstag, 3. September 2015

Totes. Recht. Ausnahme.Zustand

Wir leben immer noch im Zeitalter des Rechtspositivismus und seiner Verabsolutierung der Gesetze. Es gilt, was geschrieben steht, selbst wenn es mittlerweile ausschließlich rein-virtuell abgerufen wird und keiner sicher sein kann, dass es irgendwo auch in klassisch-gedruckter Gesetzesform existiert. Aber Gesetze, Normen, Richtlinien, Verordnungen und wie man alle Befehle im Namen des Staates oder auch der EU nennen will, gelten nicht für sich. Sie gelten, weil die Rechtsunterworfenen sich daran halten und, in zweiter Instanz, indem man ihnen Geltung verschafft, sie also gegebenenfalls – also bei Verstößen – durchsetzt. Sie sind zwangsbewehrt, die Befolgung richtet sich nach der freien Entscheidung des einzelnen, sondern wird im Notfall per Zwang durchgesetzt: Am Ende stehen Pfändungen, Freiheits- und Geldstrafen.

Doch nicht alles, was formaljuristisch gilt, ist auch realiter Gesetz, vieles wird weder von den Rechtsunterworfenen noch von den Organen des Rechtsvollzugsapparats beachtet. Recht kommt auch als Todgeburt zur Welt oder stirbt nachträglich: Etwa, weil es als veraltet gilt, von Anfang an zu weit von der Realität entfernt war oder es an Ressourcen beziehungsweise behördlichem Willen fehlt; auch die Bürokratie hat keine Allmacht und muss sich den Gegebenheiten anpassen, Prioritäten setzen. Die Realität entflieht oftmals dem Recht und seinem Vollzug.

Hier hat der Ausnahmezustand eine tragende Rolle. Wenn der Staat sich innerhalb des rechtlichen Rahmens, der einen solchen ja vorsieht, offen eingesteht, eben jenen nicht mehr zur Gänze einhalten zu können; vor allem die nicht-notstandsfesten Menschenrechte wie etwa das Recht auf ein faires Verfahren, auf Achtung des Privat- und Familienlebens, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung oder die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit vorläufig zu ignorieren, um einer Gefährdung der gesamten Ordnung als solches zu begegnen. Spätestens dann merkt man, dass einmal Festgelegtes sich ändern kann, das kein Gesetz für sich alleine gilt und das Recht von heute das Unrecht von morgen sein kann. Dass Recht mehr ist als geschriebenes Wort und ein Mindestmaß an Gerechtigkeit, aber auch an Aussicht auf Umsetzbarkeit und dem Willen, es auch ohne der Drohung von Zwang einzuhalten.

Gerade die letzten Wochen geben vielen das Gefühl, in einer Zeit des Umbruchs zu leben. Vieles, was als gegeben und unumstößlich gilt, wird offen hinterfragt und niemand weiß, wie lange es noch gilt beziehungsweise gelten kann. Recht wird offen missachtet und gebrochen, von Teilen der Rechtsunterworfenen und mittlerweile auch vom Vollzugsapparat, der es nicht mehr auf die gesamte Bevölkerung, sämtliche Gebiete oder alle Situationen anwendet. Bleibt offen, ob deswegen neues Recht geschaffen wird oder bereits bestehendes, außerstaatliches beziehungsweise jedenfalls außerhalb des formaljuristischen Rahmens bestehendes Recht an seiner Stelle weiter fortbesteht.

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