Mittwoch, 6. Januar 2016

Köln und der große Vertrauensverlust

Zeitnah über emotional dermaßen aufgeladene Geschehnisse wie die Kölner Silvesternacht zu schreiben ist ja so eine Sache: Vieles liegt im Dunkeln, vieles wird in die eine oder andere Richtung verzerrt. Dennoch kann eines bereits gesagt werden: Das Vertrauen in Politik, Medien und den Staat als Garant der öffentlichen Ordnung wurde bei unzähligen Menschen einmal mehr erschüttert.
Überforderte Politik
Die politischen Reaktionen waren, wie so oft, vorhersehbar. Mehr Polizei, mehr Überwachung, hart durchgreifen und überhaupt. Allein, ob wirklich etwas passiert und was, steht für viele auf einem anderen Blatt. Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter André Schulz wies „vollmundige Politikerforderungen“ bereits vorsorglich zurück, da das Problem „zum größten Teil hausgemacht“ sei. Ähnlich kritisierte auch der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft Mannheim Thomas Mohr die Politik für den von ihr verfügten Stellenabbau.
Unter den Reaktionen ranghoher Politiker sticht außerdem jene der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker ins Auge: Schlug sie doch anlässlich des bevorstehenden Karnevals eine Reihe von Verhaltensregeln für junge Frauen und Mädchen vor, darunter allen Ernstes den Rat, zu Fremden „eine Armlänge“ Abstand zu halten. Die Häme mitsamt eigenem Hashtag (#einearmlaenge)scheint wohlverdient.
Ebenso solle es für Teilnehmer beim in Bälde stattfindenden Karneval entsprechende Regeln geben „damit hier nicht verwechselt wird, was ein fröhliches Verhalten ist in Köln und was mit Offenheit, insbesondere sexueller Offenheit überhaupt nichts zu tun hat“. Man darf gespannt sein, was sich noch darunter befindet (der Katalog soll ja bald online gehen). Der übelriechende Geruch von Opfer-Täter-Umkehr liegt schon jetzt in der Luft, überspitzt formuliert wären etwa biedere Bekleidungsvorschriften oder ein Lach- und Tanzverbot nur konsequent. Wenn so etwas aus einem „Krisentreffen“ hervorgeht, macht sich das Gefühl breit, dass eigentlich niemand so wirklich weiß, wie man derartiges in Zukunft verhindern möchte beziehungsweise wie angemessen zu reagieren wäre.
Auch im weiteren Sinne entsprechen die Reaktionen auf die (Politiker)Reaktionen, wie man sie auf Facebook oder den Kommentarspalten (so sie überhaupt zugelassen werden, mittlerweile wird die Kommentarfunktion ja gerne vorsorglich deaktiviert, was nur für zusätzliche Aufregung sorgt) zu lesen bekommt, der schon lange vorherrschenden Skepsis in weiten Teilen der Bevölkerung. Man weiß gar nicht, wann man hier den Beginn verorten möchte, ab wann der Berufsstand „Politiker“ so dermaßen in Verruf gekommen ist. Fest steht, dass das Vertrauen in die Demokratie und ihre Vertreter schon seit geraumer Zeit auf einem äußerst niedrigem Niveau liegt. Die letzten Jahre, vor allem die „Eurorettung“, der Umgang mit den Konflikten in der Ukraine oder Syrien, aber auch mit der Flüchtlingskrise, haben hier zu einer weiteren drastischen Verschlechterung geführt. Viele haben das Gefühl, dass die Regierung andere Interessen verfolgt als das Wahlvolk, diese einander sogar widersprechen. Das ist das Biotop, in dem neue, radikalere Kräfte fernab des politischen Establishments – ob tatsächlich oder lediglich in der Wahrnehmung, ist hier nicht von Bedeutung – wachsen und gedeihen. Wundern sollte das jedoch angesichts des Auftretens der bestehenden Parteien und ihrer Vertreter allerdings kaum jemanden.
Stichwort „Lügenpresse“
Ein weiterer Missstand liegt darin, dass die Kölner Silvesternacht in den großen deutschen Medien zeitlich stark verzögert Beachtung gefunden hat, was teilweise freilich auch an der verzögerten Polizeiaussendung liegen dürfte. Nach und nach liest man darüber hinaus ebenso verspätet von sexuellen Übergriffen in anderen Städten (etwa Bielefeld oder Hamburg). Auf die dahingehende Medienkritik bis hin zum allgemeinen Vorwurf des „Erziehungs-Journalismus“ in Sachen Flüchtlingskrise mitsamt der allgemeinen Problematik, dass sich niemand die Finger verbrennen möchte, wenn die Herkunft der Täter thematisiert wird, soll hier nicht näher eingegangen werden. Fest steht jedenfalls, dass die verspätete Berichterstattung das Bild von der gelenkten bis manipulierten Medienwelt – Stichwort Lügenpresse – weiter einzementiert hat.
Auch Köln zeugt somit von der enormen Spaltung, die das Internet im Allgemeinen und Web 2.0 im Besonderen mit sich gebracht hat: Etablierte Medien auf der einen und „alternative“, zuweilen als „rechts“ bis „rechtspopulistisch“ charakterisierte Nachrichtenportale aller Art auf der anderen Seite. Die von ersteren durch Selbstzensur bei hochsensiblen Themen sowie Zuwarten oder Relativieren fallweise hinterlassenen Lücken in der Berichterstattung werden von letzteren nur allzu bereitwillig gefüllt (gerne mit reißerisch-verzerrenden Überschriften, Gerüchten, blanken Unwahrheiten und verdrehten Tatsachen). Dann weiß man nicht immer, welchen Informationen beziehungsweise welchen Quellen man noch Glauben schenken darf. Der mündige Medienkonsument muss die richtige Dosis gesunder Medienskepsis finden – den Spagat zwischen blinder Naivität und pauschaler Zurückweisung („alles Lüge!“) schaffen, am besten zeitnah. Selbstrededend leichter gesagt als getan.
Die große Angst
Der besorgniserregendste aller Trends liegt jedoch im seit länger beobachtbarem Vertrauensverlust in den Staat als Hüter von Recht und Ordnung. 2015 war hier ein fruchtbarer Boden: Man denke etwa an die chaotischen Bilder aus Spielberg, die Berichte von der „No-Go-Area“ in Duisburg-Marxloh oder die Anschläge von Paris. Dazu passend probt die Schweizer Armee anscheinend das Szenario einer im Chaos versinkenden EU, während die privaten Waffenkäufe in Deutschland, der Schweiz und Österreich stark gestiegen sind.
Das neue Jahr wird insofern entsprechend eingeleitet. Niemand liest und hört (siehe das viral gegangene Video von Ivan Jurcevic) gerne von einer mit alkoholisierten und hormonell entfesselten Männern heillos überforderten Polizei (die auf Facebook am 1. Jänner obendrein noch von weitgehend friedlichen Feierlichkeiten berichtet hatte) oder, wie es der strittige deutsche Bundesjustizminister Heiko Maas ausdrückte, einer „neuen Dimension organisierter Kriminalität“ (ungeachtet dessen, dass die in Köln eingesetzten Praktiken nach Polizeiangaben bereits hinlänglich bekannt sein sollen, was ebenso keine sonderlich beruhigende Wirkung entfaltet) beziehungsweise davon, dass Menschen in deutschen Städten „blanker Gewalt schutzlos ausgeliefert sind.“ Hinzu kommt der oft beklagte Personalmangel und die Lücken in der Strafverfolgung. Der Chef der deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt warf die Frage auf, ob es auch nur eine Verurteilung geben wird. Das klingt nachstaatlicher Ohnmacht. In der FAZ ist die Rede von rechtsfreien Räumen in vielen deutschen Städten:
"Dort schufen sich strikt der ausländischen Herkunft folgende Clans und Banden Räume, in denen die Gesetze dieser Republik nur noch wenig oder gar nicht mehr gelten, auch weil die Staatsmacht nicht mehr in der Lage oder willens ist, sie in diesen Milieus durchzusetzen."
Deutschland, Österreich und die Schweiz haben sich im Großen und Ganzen dennoch auf einem hohen Sicherheitsniveau eingependelt. Daher reagiert die Bevölkerung umso sensibler auf die erwähnten Vorfälle. Man will den gegebenen Standard nicht verlieren und auch keine Einbußen hinnehmen. Nicht wenige sehen in der Kölner Silvesternacht einmal mehr klare Anzeichen dafür, dass die Flüchtlingsströme nicht zuletzt aufgrund des hohen Männeranteils lang- oder gar kurzfristig auch Europa destabilisieren könnten. Dafür, wie schnell Geschehnisse eine unkontrollierbare Eigendynamik annehmen, die sich nicht eindämmen lässt. Dass bereits vorher vieles im Argen gelegen ist. Auf Polizei und im weiteren Sinne auch Armee kein Verlass mehr ist. Viele fragen sich mittlerweile nicht mehr ob, sondern nur noch wann es so weit ist und bestärken sich online wechselseitig in ihren Sorgen. Es scheint etwas in der Luft zu liegen („there will be blood“). Ungeachtet dessen, was sich in Köln genau ereignet hat und wie es um die öffentliche Sicherheit faktisch bestellt ist (beziehungsweise, ob eine exakte dahingehende Bestandsaufnahme überhaupt jemals vorgenommen werden kann): Die Angst ist da und wird auf unabsehbare Zeit bleiben. Und mit ihr das immer stärker nachlassende Vertrauen in Politik, Medien und den staatlichen Sicherheitsapparat.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen