Freitag, 27. November 2015

Ist der Islamische Staat ein Staat?

meine Antwort auf die Frage, ob der Islamische Staat ein Staat im Sinne des (Völker)Rechts ist (erschienen auf jusportal.at):

Der Islamische Staat (IS, bzw. ISIS, mittlerweile auch unter seiner arabischen Bezeichnung Daesh bekannt) steht nach den Anschlägen von Paris mehr denn je im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Ein dabei stetig wiederkehrendes Thema betrifft die Staatsqualität dieses Gebildes, die weder in der Lehre (so etwa erst jüngst hier), noch in der Staatenpraxis (daher etwa die Diskussion rund um die „unable or unwilling“-Doktrin und, allgemeiner, das Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure) allgemein zurückgewiesen wird.
Konsequenzen der Staatlichkeit
Die Ablehnung der Staatseigenschaft des Islamischen Staats liegt nicht zuletzt an den weitreichenden Rechtsfolgen einer derartigen Einstufung.
So käme das völkerrechtliche Gewaltverbot zur Anwendung, wonach der Islamische Staat keinen anderen Staat angreifen dürfte, umgekehrt allerdings vor Angriffen durch andere Staaten geschützt wäre (freilich erst, sobald er sich friedlich verhält). Auch die seit 9/11 schwelgende Debatte bezüglich des Selbstverteidigungsrechts gegen terroristische Angreifer hätte sich jedenfalls in diesem Zusammenhang erübrigt.
Eine weitere Rechtsfolge der erwähnten Charakterisierung als Staat wäre die Anwendung der auf zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte anwendbaren Regeln des humanitären Völkerrechts, womit seine Kämpfer als Kriegsgefangene zu behandeln und insbesondere nach Ende des Konflikts grundsätzlich auch wieder freizulassen wären.
Ausländische Kämpfer in den Reihen des Islamischen Staates dürften zudem von ihren Heimatstaaten ausgebürgert werden, sofern sich diese als Staatsangehörige qualifizieren lassen – sie wären somit schließlich nicht staatenlos.
Außerdem wäre die Unterstützung von Frankreich, das jüngst die Beistandspflicht der EU ausgerufen hat, nur schwer mit der Neutralität von Staaten wie Irland, Schweden oder Österreich vereinbar, da sie die Parteinahme in zwischenstaatlichen Konflikte ausschließt.
Staatlichkeit? Das kommt darauf an…
Aus völkerrechtsdogmatischer Sicht verlangt die Einstufung des Islamischen Staats allerdings nach einer näheren Erörterung beziehungsweise erscheint die Sache zumindestprima facie weniger klar. Oder, um die berüchtigte Standard-Juristenantwort zu bemühen: „Das kommt darauf an.“ Sieht man die drei allseits bekannten Jellinek‘schen Elemente – Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk – als gegeben an? Verlangt man als zusätzliches Element die Fähigkeit zur Aufnahme internationaler Beziehungen beziehungsweise, damit zusammenhängend, welche Bedeutung misst man der Anerkennung bei?
Die „drei Elemente“-Lehre
Zum Erfordernis des Staatsgebietes lässt sich sagen, dass der Islamische Staat seine in Syrien gelegenen Stellungen (im Gegensatz zu jenen im Irak) seit Juni 2014 zu weiten Teilen halten konnte. Das Staatsgebiet muss nicht eindeutig festgelegt und allgemein anerkannt sein. Entscheidend ist die Kontrolle über einen gewissen Teil. So wurde Albanien 1920 trotz fehlender Staatsgrenzen in den Völkerbund mit der Begründung, dass die allgemeine Anerkennung und Behandlung als Staat ab der Schaffung Albaniens im Jahr 1914 weiter fortbestand, aufgenommen. Daneben gilt auch Israel allgemein als Staat, obwohl es nach wie vor über keine eindeutigen und allgemein anerkannten Grenzen verfügt.
Allenfalls könnte man einwenden, dass es sich um syrisches beziehungsweise irakisches Gebiet handelt, das betroffene Territorium also einem bestehenden Staat gehört. Die Entstehung eines neuen Staats wäre folglich nur im Wege einer Sezession beziehungsweise einer Separation möglich. Der Islamische Staat selbst hat bereits im Juni 2014 ein Kalifat ausgerufen, was letztlich einer Art Unabhängigkeitserklärung gleichkommt. In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, dass es sich nicht um eine klassische Sezessionsbewegung (und im Übrigen auch nicht um konventionelle „Aufständische“) handelt: Der Islamische Staat beabsichtigt nicht, einen mehr oder minder fest umrissenen Teil aus einem bestehenden Staat herauszulösen, sondern strebt die Eroberung von Gebieten mehrerer Staaten an und verfolgt letztendlich die Errichtung eines weltweiten Kalifats.
Dessen ungeachtet ist es, wie auch bei klassischen Sezessionen, aus Sicht des Vorliegens eines Staatsgebiets von entscheidender Bedeutung, ob man dieses von der Zustimmung des vom Verlust betroffenen Staats entkoppeln kann oder nicht.
Auch das Element des Staatsvolks wirft Fragen auf, die sich nicht eindeutig beantworten lassen; dieser Begriff ist, wie auch sein semantischer Cousin „Nation“, schließlich heftig umkämpft und nicht eindeutig definiert beziehungsweise definierbar. Hier lassen sich zwei Ansichten unterscheiden. Manche sehen die Betroffenen als Geiseln fremder Invasoren, womit von keinem Staatsvolk gesprochen werden könnte. Andererseits scheint der Islamische Staat für die betroffene sunnitische Bevölkerung (selbstverständlich nicht für dieanderen verfolgten und in ihren Menschenrechten systematisch verletzten Minderheiten – allen voran der Völkermord an den Jesiden) angesichts der mäßig beliebten Alternativen – die schiitisch dominierte Regierung im Irak und Assad in Syrien – das geringere Übel darzustellen. Obendrein hat er es geschafft ein gewisses Maß an innerer Ordnung zu garantieren.
Jedenfalls nicht erforderlich ist eine tiefgreifende Verbundenheit mit dem Staat oder ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Staatsgrenzen sind letztlich zumeist ein Produkt politischer Willkür, dafür reicht bereits ein kurzer Blick auf die afrikanische Landkarte. Die dortigen Grenzen gehen auf die Kongokonferenz von 1884-1885 zurück, bei der ohne Rücksicht auf die Betroffenen auf ungenauen Karten Grenzen gezogen und bestehende Volksgruppen getrennt beziehungsweise zusammengepresst wurden. Auch die im Sykes-Picot-Abkommen nach Ende des Osmanischen Reichs festgelegten Grenzen im Nahen Osten werden von vielen als historisches Unrecht oder jedenfalls als von außen aufoktroyiert wahrgenommen (man denke etwa an die symbolträchtigen Videos an der Grenze zwischen dem Irak und Syrien, siehe hier oder hier). Erachtet man ein geringes Maß an moralischem Rückhalt für den Staat als ausreichend, dürfte das Kriterium des Staatsvolks im Falle des „Islamischen Staat“ durchaus gegeben sein.
Das Kriterium der Staatsgewalt ist nach innen angesichts der soeben angesprochenen Gewährleistung von Ordnung relativ unproblematisch. Auch nach außen scheint der Islamische Staat unabhängig zu sein. Wiewohl sich die verschiedenen wechselseitigen Vorwürfe hinsichtlich möglicher Unterstützungen vom Schreibtisch aus nicht verifizieren lassen, scheint ihn derzeit kein Staat hinreichend zu kontrollieren. Er hat sich vielmehr gewissermaßen verselbstständigt, jedenfalls lässt sich derzeit nicht sagen, dass es sich um eine Marionette irgendeines anderen Staats handelt. Außerdem gilt es gerade beim Islamischen Staat zu betonen, dass das Kriterium der Staatsgewalt keine bestimmte Staatsform beziehungsweise Verfasstheit oder die Wahrung der Menschenrechte verlangt. Jedenfalls die traditionelle Auffassung stellt allein auf die effektive Kontrolle nach innen und die Unabhängigkeit nach außen ab.
Zusätzliche Kriterien?
Zwei der zusätzlich gelegentlich ins Feld geführten Kriterien der Staatlichkeit – James Crawford bespricht in der zweiten Auflage seines Klassikers The Creation of States in International Law von 2006 etwa das dauerhafte Bestehen und die Bereitschaft und Fähigkeit, das Völkerrecht einzuhalten – sind, wie James Crawford betont, letztlich genau genommen lediglich für die Frage der Anerkennung von Bedeutung. Außerdem kennt die Geschichte eine Reihe von Staaten, die nur kurzfristig Bestand hatten (Britisch-Somaliland existierte etwa für lediglich fünf Tage!). Dauerhaftigkeit wird insofern eher als Indiz für die Erfüllung der drei Staatskriterien angesehen.
Zwei weitere von Crawford besprochene mögliche Staatskriterien sind ein bestimmter Zivilisationsgrad und das Vorliegen einer Rechtsordnung. Aufgrund der Unmöglichkeit eines allgemein akzeptierten Standards hinsichtlich des historisch vorbelasteten Terminus der Zivilisation wird hier allerdings lediglich ein Minimum an Ordnung und Stabilität gefordert. Dieses ist beim Islamischen Staat, wie gesagt, gewiss gegeben. Ähnlich verhält es sich mit der Notwendigkeit einer bestehende Rechtsordnung: Diese stellt bei genauerer Betrachtung einen Teilaspekt des allgemeinen Kriteriums der Staatsgewalt dar, der obendrein ebenfalls nicht allzu restriktiv gehandhabt wird. Es erscheint jedoch durchaus denkbar, dass die Staatenpraxis zum Islamischen Staat zu einer Renaissance dieser beiden Kriterien führt, wenn es um allgemein abgelehnte extremistische Gruppierungen geht.
Die Frage der Anerkennung
Sofern der Islamische Staat die „drei Elemente“ in der Tat erfüllt, richtet sich seine Staatsqualität danach, welche Bedeutung man einer allfälligen Anerkennung beimisst – also ob man die konstitutive, die deklarative Theorie oder eine Mischform vertritt.
Zur Wiederholung des klassischen Lehrbuchwissens: Der deklarativen Theorie zufolge ist die Anerkennung durch andere Staaten irrelevant für das Vorliegen von Staatlichkeit. Es kommt alleine darauf an, ob die drei Elemente gegeben sind. Gerade anhand des Islamischen Staats zeigt sich folglich eine fundamentale Schwäche dieser Theorie. Daran ändern auch allfällige Versuche nichts, dem Islamischen Staat eines oder mehrere der drei Elemente abzusprechen – konsequenterweise müsste man außerdem bei zahlreichen bestehenden Staaten aber auch bei im Entstehen begriffenen und bereits teilweise als solche anerkannten Staaten ebenso streng vorgehen. Letzten Endes läuft die deklarative Theorie im Allgemeinen darauf hinaus, jedes Gebilde, das über ein Staatsvolk verfügt und unabhängig von außen ein gewisses Gebiet effektiv kontrolliert, als Staat anzusehen. Ein unbefriedigender Zustand, der sich mit dem Aufstieg der Menschenrechte oder auch dem mittlerweile weithin anerkannten Denken über Souveränität nicht vereinbaren lässt.
Dagegen wendet sich die konstitutive Theorie, derzufolge es pace Kelsen im Völkerrecht aufgrund seiner (dezentralen) Struktur das Vorliegen bestimmter Fakten nicht zwingend Rechtsfolgen nach sich zieht. Erst durch die Anerkennung entsteht ein faktisch bereits bestehender Staat auch de iure. Allerdings entsteht er nur gegenüber dem anerkennenden Staat Bei fehlender universaler Anerkennung könnte es folglich zu einer Zwitterstellung als Staat und Nicht-Staat kommen: Ein und dasselbe Gebilde wäre für manche Staaten ein Staat, für andere jedoch wiederum nicht. Hier liegt die entscheidende Schwachstelle der konstitutiven Theorie. Gleichzeitig muss man ihr jedoch zugutehalten, dass dadurch substanzielle Standards im Inneren – also die Art der Verfasstheit oder die Einhaltung der Menschenrechte – über Umwege in den Staatsbegriff miteinfließen können. Der Islamische Staat wäre so gesehen kein Staat im Sinne des Völkerrechts.
Der goldene Mittelweg besteht darin, das in der Montevideo Konvention von 1933 zusätzlich genannte Element der Fähigkeit, mit anderen Staaten Beziehungen aufzunehmen, nicht als bloße Folge des Vorliegens der drei Elemente anzusehen, sondern als eigenständiges Kriterium. Demgemäß wäre für das Vorliegen der Staatseigenschaft jedenfalls die Anerkennung durch einige Staaten erforderlich. Diese würde wiederum nicht nur gegenüber den anerkennenden Staaten gelten, sondern objektiv, also für alle. Auch nach dieser Theorie lässt sich die Staatlichkeit des Islamischen Staats zurückweisen ohne sich in den Details der drei Elemente zu verfangen.
Andere Formen der Völkerrechtssubjektivität
Selbst wenn der Islamische Staat – jedenfalls für Vertreter der beiden letztgenannten Ansätze – kein Staat im Sinne des Völkerrechts ist, genießt er dennoch eine gewisse Völkerrechtssubjektivität. So handelt es sich zweifelsohne um eine „am Konflikt beteiligten Partei“ im Sinne des den vier Genfer Konventionen gemeinsamen Artikel 3. Darüber hinaus fällt er auch unter den Begriff der nicht-staatlichen bewaffneten Gruppe des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen, das von „anderen organisierten bewaffneten Gruppen […], die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, daß sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen“ spricht (an dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass weder Syrien noch der Irak Vertragsparteien dieses Zusatzprotokolls sind).
Bleibt die Frage offen, ob der Islamische Staat ein de-facto-Regime darstellen könnte. Diese Kategorie soll schließlich gerade jene Fälle erfassen, in denen Gebilde, die für einen längeren Zeitraum ein gewisses Staatsgebiet kontrollieren, zwar nicht anerkannt, aber als eingeschränkte Völkerrechtssubjekte behandelt werden. Gegen eine solche Charakterisierung spricht im Fall des Islamischen Staates die fehlende Dauerhaftigkeit. Zum anderen besteht derzeit und auf unabsehbare Zeit kein Interesse von Seiten anderer Staaten, mit ihm derartige, unterhalb der Schwelle formeller diplomatischer Beziehung liegende Kontakte zu unterhalten. Mehr noch – und hier besteht ein zentraler Unterschied zu den typischerweise genannten Beispielen (Nordzypern, Abchassien, Südossetien oder Taiwan) –, die Staatengemeinschaft arbeitet aktiv daran, das Fortbestehen des Islamischen Staats zu unterbinden. Es erscheint somit unwahrscheinlich, dass er sich in einer längeren Friedensphase konsolidieren und somit ein Mindestmaß an Akzeptanz erlangen könnte (siehe aber den Artikel zu Stephen Walt zu genau diesem Szenario).
Qualifizierte Staatlichkeit
Die Zurückweisung der Staatlichkeit des Islamischen Staats steht durchaus auf einem soliden Fundament. Dennoch ist die Sache bei genauerer Betrachtung nicht so einfach. Als Extrembeispiel zeigt er, dass Staatlichkeit mehr braucht als das Vorliegen der drei Elemente. Plakativ ausgedrückt hat der Islamische Staat die mechanische Anwendung der deklarativen Theorie zu Grabe getragen. Als Ausweg gilt es entweder die Bedeutung der Anerkennung durch zumindest einige Staaten zu betonen oder das Kriterium der Staatsgewalt nicht nur an die bloße effektive Kontrolle, sondern an darüber hinausgehende Erfordernisse entsprechend im Sinne von Rechtsstaatlichkeit oder der Einhaltung der Menschenrechte – allgemein das, was man unter „good governance“ versteht – zu knüpfen. Eine solcherart qualifizierte Auffassung von Staatlichkeit dürfte allerdings im Grunde genommen letzten Endes auch nicht vor bestehenden Unrechtsregimen Halt machen. So gesehen ist nicht zuletzt aus rechtspolitischen Erwägungen die Betonung der Anerkennung als Kriterium für das Vorliegen von Staatlichkeit zu bevorzugen.
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MMag. Ralph R.A. Janik
Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung
Abteilung für Völkerrecht und Internationale Beziehungen
Universität Wien

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