Montag, 29. Februar 2016

Die Beharrlichkeit der Angela Merkel

Unter dem Schatten der Oskarverleihungen sorgt derzeit auch Angela Merkels gestriger Auftritt bei Anne Will für Gesprächsstoff. Ich habe ihn bewusst nicht angesehen, mir reicht die Nachlese (am Rande bemerkt: Allgemein sind TV-Auftritte von Politikern nicht so meins. Zu groß das Gefühl der Ohnmacht, wenn man Politikern hinter dem Fernseher regelrecht ausgeliefert ist. Keine Möglichkeit hat, Fragen zu stellen oder Einwände anzubringen).
Angela Merkel spaltet wie in den letzten Jahrzehnten kaum eine andere politische Figur vor ihr (spontan fiele mir jetzt Margaret Thatcher ein). Was nicht nur an der Person, sondern auch an den großen Fragen unserer Zeit liegt – erst das Schicksal des EURO beziehungsweise der Eurozone, das immer noch alles andere als geklärt ist und jetzt die Flüchtlingskrise, die sich zu einer fundamentalen Bedrohung für ganz Europa auswächst.
Die "europäische Lösung"
Angela Merkel betonte einmal mehr, eine europäische Lösung zu wollen. Ungeachtet des ihr entgegenwehenden Winds, der mittlerweile schon zu einem Orkan ausgeartet ist. Ungeachtet der zunehmenden außenpolitischen Isolation und der Abhängigkeit von der Türkei, mit der nächste Woche erneut Verhandlungen geführt werden sollen. Eine im Hinblick auf die Meldungen von Erdogans Gesprächsstil (angeblich soll er damit gedroht haben, die Tore nach Griechenland und zu Bulgarien zu öffnen und die Flüchtlinge in Busse zu setzen) und seiner allgemeinen Regierungsführung höchst fragwürdige Strategie.
Außerdem betonte Angela Merkel, keinen Plan B zu haben. Was angesichts des Misserfolgs von Plan A dann doch Sorgenfalten hervorruft. Dennoch betonte sie, dass es nichts gebe, was eine Kursänderung ihrerseits hervorrufen könne.
Manche loben die deutsche Kanzlerin für ihre Konsequenz. Sie beweise derzeit als eine von wenigen Weitblick und Humanität, ohne sich dabei von Umfragewerten oder Populisten im In- und Ausland beirren zu lassen. Das kann man alles seinerseits hinterfragen, die verschiedensten Theorien zu ihrer Haltung sind im Umlauf. Manche sprechen davon, dass sie um jeden Preis das nach dem Griechenlandfiasko mehr als angeknackste Image Deutschlands rehabilitieren wolle. Wieder andere davon, dass sie in einer Parallelwelt lebe, in der die Ängste und Nöte der unteren sozialen Schichten keine Rolle spielen, ja nicht einmal bekannt sind. Manche betonen gar, dass sie eben nicht langfristig denke, sondern sich selbst um jeden Preis ein politisches Denkmal setzen wolle (zumal sie ja keine eigenen Kinder hat).
"Sunk costs"?
Vielleicht ist der Grund für ihr Festhalten am eingeschlagenen Kurs auch wesentlich banaler und kommt gänzlich ohne ad hominem-, also unmittelbar gegen ihre Person gerichtete Argumente aus. Vielleicht unterliegt sie auch einfach nur einem psychologischen Fehlschluss, den man als sunk costs bezeichnet. Man findet ihn in populärwissenschaftlichen Büchern von Vertretern der sogenannten Behavioral Economics. Diese hinterfragen das in den Wirtschaftswissenschaften immer noch weit verbreitete Bild vom rational handelnden (Wirtschafts-)Akteur – dem homo oeconomicus. Schließlich handeln Menschen oft genug höchst irrational. Zum Beispiel dann, wenn sie zur Erreichung eines Ziels bereits viel eingesetzt und verloren haben und diese Verluste um jeden Preis wieder hereinholen möchten. Obwohl die bereits erlittenen Verluste rein rational betrachtet keine Auswirkungen auf spätere Entscheidungen haben sollten, wobei die gemachten Erfahrungen eigentlich eines Besseren belehren sollten.
Man kann dieses Verhalten in Casinos ebenso gut beobachten. Oder bei Geschäftsmännern und -frauen, die ihre ach so tolle Business-Idee einfach nicht aufgeben wollen. Oder eben mitunter bei Angela Merkel, die sich in der europäischen Flüchtlingsfrage einfach nicht von ihrem Weg abbringen lassen möchte – zumal sie erst im Dezember betonte, wie viel man bereits geschafft habe.
Manchmal ist Beharrlichkeit wichtig. Manche Businessideen gehen, wenn auch verspätet, am Ende dann doch auf. Dann lobt man den unermüdlichen Einsatz für eine Idee, an die man geglaubt hat, als alle anderen sie totgesagt haben.
Aus Fehlern lernen
Oft genug scheitert man jedoch. Dann ist der Schuldenberg höher als notwendig, oft werden gesamte Familien mit hineingezogen und vieles hätte sich vermeiden lassen, wenn man früher zur Vernunft gekommen wäre. Also sich damit abgefunden hätte, dass sie bereits erlittenen Verluste nicht mehr rückgängig gemacht werden können, erst Recht nicht mit einer Idee, die eigentlich als gescheitert zu betrachten ist.
Ob man Angela Merkels Plan als gescheitert betrachtet, liegt freilich im Auge des Betrachters. Ein abschließendes Urteil will ich mir nicht erlauben. Vielleicht ist Europa nicht so weit. Vielleicht triumphiert Realpolitik einmal mehr über Ideale. Vielleicht war die Sache gut gemeint, nur eben im Endeffekt doch zu planlos.
Unabhängig davon sollten rational betrachtet gerade in derart heiklen Bereichen bereits getätigte Aufwendungen und Verluste bei der Entscheidungsfindung keine beziehungsweise allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Eigentlich. Umso mehr, als – ob wir wollen oder nicht (und hier liegt die Unterscheidung zum gescheiterten Unternehmer) – die Entscheidungen der Regierung Merkel Auswirkungen auf ganz Europa und damit auf jeden einzelnen von uns haben.

Samstag, 27. Februar 2016

"Ja, aber xyz macht das auch" – von der Gesprächs(un)kultur und dem großen Relativieren

Unsere Gesprächskultur ist kaputt. Zumindest beziehungsweise insbesondere, wenn es um die ganz heiklen Themen unserer Zeit geht: Geschlechterdebatte, Flüchtlingskrise und Islam, um nur drei zu nennen.
Wenig verwunderlich, die damit zusammenhängenden Fragen sind überaus emotional besetzt. Persönliche Erfahrungen, Ängste und Sorgen spielen eine große Rolle. Da bleibt die Sachlichkeit oft genug auf der Strecke.
Allein, rein emotional geführte Debatten tragen nur wenige Früchte, wenn überhaupt. Eigentlich sollte es bei Diskussionen nicht darum gehen, zu „gewinnen“, also den eigenen Willen um jeden Preis durchzusetzen. Sondern darum, eine vernünftige Lösung zu finden, mitunter überhaupt erst das Problem zu identifizieren. Und dafür braucht es weniger Emotion und mehr Logik.
Der tu quoque-Fehlschluss
Unter den unzähligen populären logischen Fehlschlüssen und sonstigen Scheinargumenten sticht mir seit je her jener des tu quoque unliebsam ins Auge. Damit meint man die Abwertung oder Zurückweisung eines Arguments durch den Verweis auf (Fehl-)Verhalten desjenigen, der es äußert (aber auch anderer). Besonders oft stößt man in Parlamenten darauf – wenn (Oppositions-)Partei A Partei B beispielsweise dafür kritisiert, nichts zu tun, um die Pensionen langfristig zu sichern und Partei B damit antwortet, dass Partei A ja das auch nicht gemacht hat, als sie in der Regierung war. Oder, um ein zweites Beispiel zu nennen, Missstände innerhalb des islamischen Raums damit relativiert oder gar zurückgewiesen werden, dass es im Christentum auch nicht so viel besser aussähe.
Das mag ja manchmal notwendig sein, um die Dinge in Perspektive zu rücken. Zu verdeutlichen, dass von Partei A wohl ebenso keine Lösung in der Pensionsfrage zu erwarten ist, sondern eher von Partei C, die ihre Glaubwürdigkeit eventuell noch nicht verspielt hat.
Oder, im zweiten genannten Fall, dass der Islam mit seinem hochproblematischen Frauenbild nicht alleine dasteht. Eine Modernisierung durchaus möglich ist, da andere Religionen ja auch Fortschritte in diesen und anderen Bereichen gemacht haben. Oder, sofern man derartige Fortschritte bestreitet, viele ihrer Anhänger sie wenigstens nicht mehr so streng leben (Stichwort Taufscheinchrist).
Mehr Logik wagen
Allein, oft genug werden Argumente und wichtige Diskussionen mit tu quoque, mit einem „ja, aber XYZ macht das auch“ regelrecht abgewürgt. Wenn Partei B sich darauf versteift, Partei A das Recht auf Kritik abspricht, wird dadurch das Pensionsproblem nicht gelöst. Dass im Namen des Christentums Verbrechen begangen werden und wurden, macht das die Verbrechen im Namen des Islam nicht besser. Die Probleme und Missstände im Bereich der einen Religion ändern nichts an den Problemen und Missständen der anderen.
Gut möglich, dass vielen gar nicht bewusst ist, dass sie oftmals logischen Trugschlüssen unterliegen. Nicht jeder praktiziert den gezielten Einsatz von Desavouierung und anderen schmutzigen rhetorischen Kniffen, um sein Gegenüber schlecht dastehen zu lassen. Nicht jeder diskutiert im Rahmen von „Elefantenrunden“ oder im Parlament, wo es schon lange nur noch darum geht, möglichst gut dazustehen, ohne dass irgendeiner der Gesprächsteilnehmer dazu bereit wäre, vom eigenen Standpunkt abzugehen (selbst wenn dieser sich als falsch herausstellen sollte).
Hier liegt ein Grundmangel unserer Gesprächskultur: Die elementaren Grundregeln der Logik sind vielen unbekannt. Die braucht es aber, um zielgerichtete und sinnvolle Diskussionen zu führen, anstatt sich verbal die Schädel einzuschlagen. 

Dienstag, 23. Februar 2016

Wer ist das Volk?

"Wir sind das Volk" tönen die einen. "Das ist Pack" so manch anderer. Gerade heute zeigt sich mehr denn je, dass Sammelbegriffe, vom großen "Wir" bis hin zu "Volk" oder "die Österreicher" beziehungsweise "die Deutschen" nicht mehr so recht greifen wollen.

Die Dialektik von Masse und Individuum zieht sich als roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Gemeinhin heißt es, spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges und dem "Sieg" des Kapitalismus beziehungsweise der Demokratie westlichen Musters leben "wir" (da ist es wieder) in Zeiten des Individualismus – mit allen Vor- und Nachteilen: Die Freiheit zur Entfaltung bringt auch das Gefühl von Ratlosigkeit und dem Verlorensein mit sich; Unabhängigkeit oft zur Erodierung familiärer Strukturen und dem damit einhergehenden Gefühl von Sicherheitsverlust; Konkurrenzdruck statt gemeinsamen Auftreten auf dem Arbeitsmarkt. Um nur ein paar Beispiele zu nennen.


Begriffe wie "Volk" oder auch sein Cousin, die "Nation", sind im deutschen Sprachraum spätestens seit Ende des Zweiten Weltkrieg negativ konnotiert. Die Schriften von Fichte oder Hegel lesen sich heute wie aus einer anderen Welt. Beispiel gefällig? In Fichtes Reden an die deutschen Nation etwa stößt man auf solche Passagen:

Nach allem wird der ausländische Genius die betretenen Heerbahnen des Alterthums mit Blumen bestreuen, und der Lebensweisheit, die leicht ihm für Philosophie gelten wird, ein zierliches Gewand weben; dagegen wird der deutsche Geist neue Schachten eröffnen, und Licht und Tag einführen in ihre Abgründe, und Felsmassen von Gedanken schleudern, aus denen die künftigen Zeitalter sich Wohnungen erbauen. Der ausländische Genius wird sein ein lieblicher Sylphe, der mit leichtem Fluge über den, seinem Boden von selbst entkeimten Blumen hinschwebt, und sich niederlässt auf dieselben, ohne sie zu beugen, und ihren erquickenden Thau in sich zieht; oder eine Biene, die aus denselben Blumen mit geschäftiger Kunst den Honig sammelt, und ihn in regelmässig gebauten Zellen zierlich geordnet niederlegt; der deutsche Geist einAdler, der mit Gewalt seinen gewichtigen Leib emporreisst, und mit starkem und vielgeübtem Flügel viel Luft unter sich bringt, um sich näher zu heben der Sonne, deren Anschauung ihn entzückt.
Nicht wenigen gelten Fichte und Hegel mit ihrer mythologischen Erhöhung von Volk, Nation und Staat als unfreiwillige Vorstufen zum deutschen Hypernationalismus unseliger Zeiten. Dennoch spricht freilich immer noch von "den Österreichern" oder "den Deutschen." Ebenso beinhaltet die österreichische Bundesverfassung das bekannte Postulat, wonach das Recht "vom Volk" ausgehe. Dennoch (oder gerade deswegen) herrscht gerade in Deutschland und auch in Österreich große Sensibilität, wenn einzelne Gruppen die Volkseigenschaft beziehungsweise die Deutungshoheit über den hypothetischen "Volkswillen" für sich beanspruchen wollen.

Jetzt könnte man lange darüber diskutieren, wer als Volk oder Nation anzusehen ist, welchen Inhalt dieser Begriff heute noch hat oder haben kann. Oder sich damit abfinden, dass das Volk, die Nation nicht oder nur in stark abgeschwächter Form – jedenfalls nicht im Sinne der Vordenker dieses Begriffs – existiert. Überreste sind durchaus nach wie vor vorhanden, gehören aber entsprechend adaptiert und mit Einschränkungen, zumal es an neuen Begrifflichkeiten fehlt. Wobei man nicht vergessen darf, dass es sich beim Volk oder der Nation letztlich um keine homogene Masse, sondern eine Vielzahl an Individuen handelt, die durchaus über gemeinsame Erinnerungen, Vorstellungen, Werte und Gewohnheiten "verbunden" sein können. Aber eben in beschränktem Maße: Wir oszillieren nach wie vor zwischen kollektivistischen Begriffen und Vorstellungen, in denen der einzelne in der Masse untergeht, und weitgehendem Individualismus, der – auch wenn Kritiker an dem, was man gerne als "Kapitalismus" oder "Neoliberalismus bezeichnet, gerne anderes behauptet – sich bislang ebensowenig durchgesetzt hat.

Samstag, 20. Februar 2016

Politik: Zeiten der Entfremdung?

Beim gestrigen EU-Gipfel sorgte Angela Merkel zur Abwechslung einmal für nicht-unmittelbar flüchtlingsbezogene Schlagzeilen. Ging sie doch in der Pause mal eben zu einem Frittenstand. Die Fotos sprechen eine interessante Sprache: Ja, da standsie, die deutsche Kanzlerin und mächtigste Frau Europas, wie jeder andere Mensch auch, um sich für 3,70€ kulinarisch zu laben.
Die Szenerie bietet einen Kontrast zum negativen Bild, das viele von der gegenwärtigen Politik haben. Mit einem Male wirkt sie nicht bürgerfern und abgehoben, wenigstens für den Moment. Bis der EU-Gipfel weitergeht zumindest. Gerade Angela Merkel wird häufig mit dem Vorwurf konfrontiert, gegen ihr eigenes Volk zu regieren. 
Auf die Politik zu schimpfen ist in unseren Breiten natürlich bereits seit je her Volkssport. Skandale, Korruptionsaffären, zahlreiche niveaulose Scheindebatten in den Parlamenten stehen an der Tagesordnung und erregen wenn, dann höchstens kurz Aufsehen. Man hat sich daran gewöhnt. Ob es früher besser war? Schwer zu sagen. Fest steht jedoch, dass man im Zeitalter von Internet und Web 2.0 wesentlich mehr davon mitbekommt, was später noch durch die etablierten Medien gefiltert wurde. Dinge, die man eigentlich gar nicht wissen will, zumal dadurch die Gefahr eines Magengeschwürs steigt.

Bürgerferne?

Zwischen Politik und Teilen des Volks scheint eine große Lücke zu klaffen. Viele haben schon lange das Gefühl, dass „die da oben“ ohnehin machen, was sie wollen. In ihrer eigenen Welt leben, in der ganz andere Regeln und Parameter gelten. Wo die Probleme und Schwierigkeiten des Alltags der breiten Masse und noch mehr derjenigen, die sozial ganz unten stehen, höchstens vom Hörensagen kennen, wenn überhaupt. Denn die Politik gehorcht ihren eigenen Gesetzen und ihre Akteure verfolgen eigene Ziele – die Vertretung des Volkes, das offizielle Hauptanliegen, tritt dabei gerne in den Hintergrund. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die erkleckliche Gehälter, das Phänomen des Berufspolitikertums und die Dominanz der Parteien. Politik als Beruf ist keine Ausnahme, sondern vielfach zur Regel geworden. So bildet die Zusammensetzung des Parlaments das Volk streng genommen nicht in adäquater Weise ab, da in Österreich öffentlich Bedienstete und Bauern übermäßig stark repräsentiert während viele Abgeordnete hauptberuflich für ihre jeweilige Partei arbeiten. Ebenso gibt es nur wenige Junge (wen wundert da der Reformunwille beim maroden Pensionssystem), einen niedrigen Frauenanteil und relativ viele Akademiker. 
Noch schlimmer das Bild auf EU-Ebene. Brüssel wird das weit verbreitete Bild vom bürokratischen Moloch wohl nie abschütteln können – wie auch, ab einer gewissen Anzahl von Bürgern (im Falle der EU doch um die 450 Millionen) lässt sich das wohl schlichtweg nicht vermeiden. Dasselbe Problem kennt man in den USA, wo Washington als fernes und undurchschaubares Schaltzentrum der Macht gilt, schon länger.

Small is beautiful?

Der Ruf „mehr Europa wagen“ hat insofern einen fahlen Beigeschmack. Bedeutet er doch eine zusätzliche Kompetenzabgabe „nach oben“ und eine unweigerliche Verstärkung des Eindrucks von einer Institution, die die Interessen vieler Bürger nicht gebührend würdigt, ja teilweise sogar gegen diese arbeitet (ganz unabhängig davon, ob dem wirklich so ist).
Ein möglicher Ausweg, der in die andere Richtung führt, liegt in einer Rückbesinnung auf das Kleine. Einerseits das durch etwa in Artikel 5 des Vertrags über die Europäische Union und bis auf Aristoteles zurückgehende Subsidiaritätsprinzip als Maxime der Herrschaftsausübung. Kurz gefasst besagt es, dass Maßnahmen sollen soweit wie möglich auf lokaler Nähe gesetzt werden sollen. Andererseits durch die Stärkung kleinerer politischer Einheiten, also Gemeinden, Städte, Regionen oder Bundesländer. Schließlich sind diese nicht nur näher an den Betroffenen, sondern mitunter auch wesentlich effizienter.
Spätestens seit dem Aufstieg des zentralisierten europäischen Nationalstaats – mit dem post-revolutionären Frankreich als Paradebeispiel – gelten kleinere politische Einheiten ein Symbol von Rückständigkeit. Föderalistische Systeme sind außerdem oftmals schlecht konstruiert und bringen damit einen eigentlich sinnvollen Gedanken in Verruf – bestes Beispiel ist Österreich und das Problem, dass hier Einnahmen- und Ausgabenverantwortung auseinanderlaufen. Außerdem hat das Kleine gerade in Zeiten von Globalisierung, der Bildung beziehungsweise steigenden Bedeutung großer politischer Einheiten (allen voran die EU, die USA und China, aber auch Russland oder Indien) stetig an Bedeutung verloren. Die Probleme unserer Zeit lassen sich nur auf globaler Ebene und im Rahmen der dazugehörigen Institutionen (allen voran die UNO und ihre Teilorganisationen oder die WTO) lösen, heißt es.
Blickt man auf die Ereignisse der letzten Jahre zurück, muss man sich allerdings fragen, ob es nicht an der Zeit für eine Wiederbelebung und eine Rückbesinnung auf das Kleine ist. Wie der frühere Staatschef Liechtensteins, Alexander Frick, es so treffend ausdrückte: „Bis große Staaten ein Problem überhaupt bemerken, haben wir es schon zur Hälfte gelöst.“ Small is beautiful; nicht immer, aber doch oft genug.


Freitag, 19. Februar 2016

Der Flüchtlingsbegriff: Wenn alle aneinander vorbereiden

Die Flüchtlingskrise wird uns auf unbestimmte Zeit beschäftigen. Was, auch wenn viele das Thema bereits nervt, in der Natur der Sache liegt. Schließlich werden dabei essentielle, emotionale Fragen berührt: Demographische Veränderung, Rückbau des Sozialstaats, Integration, die Sorge vor Islamisierung, Destabilisierung, ja sogar vor Unruhen und Konflikten. Umso drängender die Notwendigkeit, ein wenig Klarheit zu schaffen (oder es zumindest zu versuchen). Oft genug reden die Menschen schlichtweg aneinander vorbei.
Das zeigt sich bereits beim Begriff des Flüchtlings, der – so scheint es jedenfalls – seine als zu negativ behaftet angesehenen Vorgänger wie „Asylant“ oder „Asylwerber“ (Österreich)/Asylbewerber (Deutschland) oft abgelöst hat. Die damit verbundene Verwirrung hat sich etwa letzte Woche gezeigt, als zahlreiche Medien stark verkürzend meldeten, dass nur drei der im Zusammenhang mit den Übergriffen in Köln festgenommenen Männern Flüchtlinge seien (dazu später mehr). Nachfolgend soll daher versucht werden, ein wenig Klarheit zu schaffen.
Der Flüchtlingsbegriff
Wie mittlerweile selbst jene mit großen Aversionen gegenüber der Juristerei wissen, findet man die Flüchtlingsdefinition in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 in Verbindung mit ihrem Zusatzprotokoll von 1967 (durch die die zeitliche Einschränkung wegfiel): Als solcher gilt, wer
aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will; oder die sich als staatenlose infolge solcher Ereignisse außerhalb des Landes befindet, in welchem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und nicht dorthin zurückkehren kann oder wegen der erwähnten Befürchtungen nicht dorthin zurückkehren will.
Drei Missverständnisse im Zusammenhang mit der Flüchtlingsdefinition
Nachfolgend sollen drei oft wiederkehrende juristische Missverständnisse aufgeklärt werden. Erstens geht die Flüchtlingseigenschaft nicht durch die Flucht in ein sicheres Land verloren; entscheidend ist vielmehr, dass man sich außerhalb des Heimatlandes befindet. Soll heißen: Wenn jemand in Syrien aus den oben genannten Gründen verfolgt wird und in die Türkei flüchtet, bleibt er dennoch Flüchtling, unabhängig davon, ob und wie sicher es in der Türkei ist beziehungsweise ob er auf dem Weg nach Österreich oder Deutschland zahlreiche sichere Länder durchquert hat. Unabhängig, wie man dazu steht, so lautet die gegenwärtige Rechtslage.
Das zweite Missverständnis betrifft die Wortschöpfung „Kriegsflüchtling“: Jemand, der aus einem Land flieht, in dem Krieg herrscht, ist nicht automatisch beziehungsweise notwendigerweise ein Flüchtling. Allerdings beinhaltet Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention das Verbot, jemanden in ein Land zurückzuschicken, in dem „sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde.“ – außer, wenn der Betroffene „eine Gefahr für die Sicherheit des Landes anzusehen ist, in dem er sich befindet, oder der eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Staates bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens rechtskräftig verurteilt wurde“ (Absatz 2). Aufgrund von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention darf der Betroffene laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jedoch selbst dann, wenn Absatz zwei erfüllt ist, nicht zurückgeschickt werden, wenn ihm im Zielland Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen.
Der langen Rede kurzer Sinn: Selbst wenn jemand aus Syrien nicht unbedingt die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt, darf er nicht dorthin zurückgeschickt werden. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit, aus einem der dort genannten Gründe verfolgt zu werden, zu Kriegszeiten ungleich höher.
Das letzte Missverständnis betrifft den Beginn der Flüchtlingseigenschaft. Das Asylverfahren begründet diese nicht, sondern bestätigt sie. Flüchtling ist man bereits, sobald Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt ist, unabhängig von jedwedem Verfahren. Umgekehrt fällt dieser Status grundsätzlich weg, sobald jemand beispielsweise in sein Heimatland zurückkehrt oder die Umstände, die die Flüchtlingseigenschaft begründet haben, wegfallen und er es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Heimatlandes in Anspruch zu nehmen.
Asylwerber oder Flüchtling?
Auf die eingangs genannte Meldung bezogen bedeutet das Folgendes: Es ist in der Tat gut möglich, dass es sich nur bei einem Bruchteil der Tatverdächtigen der Übergriffe von Köln tatsächlich um Flüchtlinge handelt; wohl aber sind jene, die Asyl beantragt haben, während des laufenden Verfahrens Asylwerber (die wohl nur geringe Chancen auf Anerkennung als Flüchtling haben). Jetzt könnte man gerade deswegen darauf plädieren, allgemein von „Asylwerbern“ zu sprechen – was jedoch umgekehrt das Problem mit sich bringt, dass Flüchtlinge in der Wahrnehmung und entgegen der Rechtslage nicht als solche wahrgenommen werden, ehe sie nicht nach Abschluss ihres Asylverfahrens als solche juristisch anerkannt wurden. Wie man’s macht, man macht es falsch.
Das Ganze lässt sich zum Abschluss auch in einen breiteren Kontext bringen. Ich wage zu behaupten, dass so manche „Asylkritiker“ gar kein grundsätzliches Problem mit der Aufnahme von Flüchtlingen haben, selbst wenn es sehr viele sein sollten. Die Sorgen und die darauf basierende Ablehnung rühren eher daher, dass eben nicht nur tatsächliche Flüchtlinge Asyl beantragen, sondern auch viele, die sich in Europa ein gutes beziehungsweise besseres Leben erhoffen, ohne in ihrer Heimat verfolgt zu werden. Was aus der individuellen Perspektive zwar nachvollziehbar ist, letzten Endes aufgrund der Vielzahl an Antragstellern und der Reaktion der europäischen Staaten darauf jedoch das gesamte Asylrecht ins Wanken bringen könnte. Womit keinem geholfen wäre.



Donnerstag, 18. Februar 2016

Die Zeit, die bleibt

Zeit ist ein knappes Gut, sagt die Binsenweisheit; mit wem und womit man sie verbringt, will gut überlegt sein. Nur allzu verlockend das Versteck hinter der Phrase, keine Zeit zu haben, weil man sie irgendwie auch gar nicht haben möchte. Gemeint sind jene, die unter Urlaub Kurzurlaub verstehen; Städtetrips, zwei Tage, vielleicht drei. Die bei Einladungen reflexartig mit "schaun wir mal", "ich kann noch nicht fix zusagen" und Ähnlichem antworten. Die selbst die Mittagspause am Arbeitsplatz verbringen und auch am Wochenende arbeiten. Denen vor der Zeit abseits vom Arbeitsplatz regelrecht graut. Aber auch jene, denen die Zeit buchstäblich davonläuft, sobald sie den strengen Augen der Vorgesetzten entkommen konnten.
Der natürliche Umgang mit der Zeit ist kein Leichtes. Was verschiedene Gründe hat, zwei seien hervorgehoben: Einerseits die Angst, etwas zu verpassen (man spricht von "FOMO", Fear Of Missing Out). Überall lauern Events aller Art, von Diskussionsveranstaltungen und Ausstellungen über Restauranteröffnungen bis hin zu den vielen Späßen nach 23h und später. Was dann dazu führt, dass man entweder an keinem der gewählten Orte glücklich wird (weil es ja noch unzählige andere zur Auswahl gegeben hätte, wo es doch vielleicht besser ist) oder es gleich bleiben lässt. Wie uns die Verhaltensökonomik lehrt, führt ein Überangebot zu weniger Konsum beziehungsweise umgekehrt eine geringere Auswahl zu mehr. Gut möglich, dass das nicht nur für Produkte, sondern auch für die Gestaltung unserer Freizeit gilt.
Zweitens der Drang zu beruflicher Selbstverwirklichung, für die man viel in Kauf nimmt. Viele oszillieren zwischen „Selbstausbeutung“ zwecks Erreichung eines selbstgesetzten beruflichen Ideals und der Notwendigkeit von Erholung. Arbeit verstanden als wenig inspirierende, aber nun einmal notwendige und streng von der Freizeit getrennte Tätigkeit ist dem Beruf im Sinne von „Berufung“ gewichen. Von Berufung kann man dann sprechen, wenn man sein Geld mit etwas verdient, das man eigentlich auch gratis oder auch für wesentlich weniger Geld machen würde – eben, weil es einem Freude bereitet. Ein Ideal, für das man sehr viel zu tun gewillt ist. Nur logisch, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit hier fließend, im schlimmsten Fall auf Kosten von letzterer verläuft: „Wenn ich nur lange genug hart genug daran arbeite, werde ich irgendwann da und dort sein, dieses und jenes machen und dann wird alles gut“ – eine Vorstellung, die sich vielfach als Trugschluss entpuppt. Zumal dann die Frage folgt, ob das erreichte Ziel die dafür eingesetzten Anstrengungen und Mittel tatsächlich wert war. Wenn man erst dann merkt, wie viel man auf dem Weg dorthin eigentlich aufgegeben beziehungsweise nicht ausreichend beachtet hat – Kontakt mit Verwandtschaft und Freunden, Familiengründung oder ein geliebtes Hobby.
Die Auswege aus dem Dilemma mit der Zeit sind vielfältig. Manche laufen geradewegs ins Burnout; wenn Körper und Geist durch Arbeitsverweigerung gewaltsam den Raum nehmen, der ihnen zu lange vorenthalten wurde. Um gar nicht erst dorthin zu kommen suchen andere sich Hobbies, die nur bedingt etwas mit dem Beruf zu tun haben; an jeder Ecke eine Crossfit-Box oder ein Fitness-Center, für die gemütlicheren gibt es Malerei- und Töpferkurse (selbst häkeln und stricken sind wieder en vogue).
Oder man gönnt sich dann doch ab und an eine Auszeit in den unterschiedlichsten Formen: Thermenbesuche, Entschlackungskurse, Wanderungen. Vielleicht steigt man auch in den Flieger, um mal „ganz was Neues“ zu erleben: Indien, Laos, Kambodscha und Thailand stehen da hoch im Kurs. Um zumindest temporär ein Höhegefühl zu erleben und das Gefühl zu haben, die Dinge in Perspektive zu rücken. Ein Esprit, der oft nur bis zum ersten Kontakt mit dem Wienerischen bei der Rückkehr anhält. Daheim kann man dann wenigstens noch erzählen "wie erfrischen anders" die Kultur und die Menschen dort nicht sind.
Am Ende steht die nüchterne Erkenntnis: Man wird immer etwas verpassen und man wird immer etwas falsch machen, egal, wie man mit einer Zeit umgeht. Aber man wird auch etwas erleben und auch etwas richtig machen. Jede Entscheidung für etwas bedeutet ja zugleich auch eine Entscheidung gegen etwas und umgekehrt. Was aber immer noch besser ist, als gar keine zu treffen.

Mittwoch, 17. Februar 2016

Europa: Ein Haus, das bleibt


Viel wird von Europa und damit von der EU geredet. Oft in Sorge. Davor, dass der "europäische Gedanke" im Sterben liegen könnte, geopfert am Altar der Ängste und egoistischer, nationalstaatlicher Interessen. Gerade jetzt, so wird dem entgegengesetzt, müsse man jedoch "mehr Europa wagen", ein Rückfall in die Zeit der Nationalstaaten sei verheerend.
Allein, die Ansichten darüber, was Europa eigentlich ist, gehen auseinander. Selbst die Gleichsetzung von "Europa" mit "der EU" wird nicht allgemein akzeptiert. Europa ist mehr als die EU, besteht schon länger als eben jene und wird – für die ganz Pessimistischen – auch nach einem allfälligen Auseinanderbrechen der EU weiter existieren.
Ketzerische Gedanken. Die EU, ihr Bestand und ihr Fortleben werden nicht in Frage gestellt. Jedenfalls nicht im Mainstream-Diskurs, also von etablierten Journalisten, Wissenschaftlern, Vertretern aus "der Wirtschaft" oder der politischen Elite.
Wer etwas auf sich hält, hat den europäischen Gedanken begriffen. Zweifler, mitunter sogar an der EU als Gesamtkonstrukt, stellen sich schnell ins Abseits, sofern sie nicht ohnehin bereits dort stehen. Irgendwann sind Zusätze wie -"Skeptiker" oder "-Kritiker" von lobenswerten Eigenschaften zu diffamierenden Kainsmalen für jene geworden, die zu weit vom herrschenden Paradigma abweichen.
Der Diskurs ist dementsprechend verengt. Für Grundsatzfragen bleibt wenig Raum. Ja, im Rahmen des baulichen status quo können hie und da ein paar Rädchen gedreht, ein paar Bretter ausgetauscht werden. Aber das Haus wird nicht abgerissen und auch nicht von Grund auf saniert. Für ersteres fehlt es an Alternativen — die Rückkehr einem Europa der Nationalstaaten gilt spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg als gefährlicher Anachronismus – für zweiteres an politischem Willen. Der Esprit der 1990er Jahre mitsamt den dazugehörigen Erweiterungsrunden und dem Vorantreiben der Integration (verstanden als stärkere Zusammenarbeit und Kompetenzabtretung von Seiten der Mitgliedsstaaten) ist dahin. Auch wenn es in den Köpfen so mancher Visionäre weiter in Richtung quasi-Bundesstaat gehen soll, fehlt hier mehr denn je der politische Wille. Gleichzeitig ist auch ein Rückbau undenkbar. Zu dominant die herrschende Vorstellung von den großen Errungenschaften der Verträge von Maastricht, Amsterdam oder Lissabon. Gemeinsame Währungsunion, Wegfall der Grenzen, Außen- und Sicherheitspolitik müssen bei allem Raum für Verbesserungen beibehalten werden.
So wird das Haus vorläufig so weit in Stand gehalten, dass es nicht zusammenbricht. Zum Leidwesen der Mieter – von jenen in den unteren Etagen bis zu den Bewohnern der Dachgeschosswohnungen. Wenn auch aus oft einander diametral entgegengesetzten Gründen: Manche wollen eben mehr, andere weniger Europa.

Samstag, 13. Februar 2016

Zum Tod von Trifon Iwanow: A walk down the memory lane

Trifon Iwanow ist heute im Alter von gerade einmal 50 Jahre verstorben. Der Bulgare mit dem charakteristischen Bartwuchs steht wie kaum ein anderer für den österreichischen Fußball der Mitt-1990er Jahre, genauer gesagt der damals höchst erfolgreichen Rapid-Mannschaft. Für viele eine prägende Zeit. Mehr als genug Anlass zum Sinnieren.
Kultfigur Iwanow
Trifon Iwanow erlangte im Zuge der WM von 1994 als Mitglied des damals überraschend bis ins Halbfinale avancierten bulgarischen Nationalteams internationale Bekanntheit. Als er bei Rapid Wien anheuerte war er den meisten daher schon ein Begriff, eine Seltenheit bei Neuverpflichtungen österreichischer Fußballvereine (von so manchen abgehalfterten Ex-Stars abgesehen; man erinnere sich an Giuseppe Giannini, Hugo Sanchez oder auch Dejan Savićević). Was freilich daran lag, dass er seine Karrierechancen mit immer wiederkehrenden disziplinären Probleme erheblich einschränkte. Österreich, das war und ist ja nicht unbedingt ein fußballerisches Traumziel.
Iwanow hat sich neben dem kultigen Äußeren – der bereits erwähnte Bartwuchs in Kombination mit seinen bis in den Nacken reichenden Haaren (eine sogenannte Gnackmattn) und dem unverkennbaren Schlafzimmerblick – vor allem mit zwei Aktionen ins kollektive Gedächtnis der nicht mehr ganz so jungen österreichischen Fußballfans eingebrannt. Seine Vorarbeit zum 2:0 gegen Sporting Lissabon im mittlerweile abgeschafften "Cup der Cupsieger"-Bewerb 1995/96 (O-Ton Hans Krankl, damals Co-Kommentator: "der Iwanov als selbsternannte Sturmspitze hat das Tor möglich gemacht" ) und sein aus dem Nichts abgefeuerter Weitschuss im entscheidenden Meisterschaftsspiel gegen Sturm Graz in der gleichen Saison (und das, obwohl er nicht einmal zu einem Tor geführt hat). Rapid erreichte in besagtem Bewerb das Finale und wurde österreichischer Meister.
Die guten alten 90er
In dieser Saison war ich gerade einmal 10 Jahre alt. Das Spiel gegen Sporting Lissabon habe ich vor dem Fernseher erlebt. Die Portugiesen waren eigentlich eine Übermacht und kaum jemand hat gedacht, dass Rapid (noch) weiterkommen würde. Der Erfolg und der dahinterstehende Kämpferwille gilt als eines der Paradebeispiele für den Mythos vom "Rapid-Geist". Beim 2:0 gegen Sturm Graz war ich sogar im Stadion, nach Abpfiff durfte ich als Teil der euphorisierten Masse hinunter zum Spielfeld. Mit dem legendären grünweißen Dress aus der Zeit. Vorne Avanti, hinten die Nummer 7, inklusive Namensaufdruck (Christian Stumpf; weil er so "groß und stark" war), obwohl das damals, soweit ich weiß, noch nicht üblich war. Just an jenem Tag gekauft, an dem Christian Stumpf besagte Vorlage verwertet hat. Ich war vorm Fernseher so stolz, als wäre ich der eigentliche Torschütze. Damals brauchte es nicht viel und schon gar keine eigene Leistung.
Beim Lesen des Tweets von seinem Tod sind diese und andere Erinnerungen wieder hochgekommen. An das rotblaue Oldschool-Rapid-Auswärtsdress. Daran, wie begeisterungsfähig man in diesem Alter doch ist. An Stickeralben, Sportmagazine aller Art und den Katalog vom Fanshop-Strobl. Zu Weihnachten ein Dress (also Trikot, Hose und Stutzen!), zum Geburtstag Fußballschuhe, Schienbeinschoner und Torwarthandschuhe (weil die Dressen doch sehr teuer waren, musste bisweilen eine "Fälschung" vom Naschmarkt ausreichen, für die man sich vor anderen geniert hat).
An Matches in Wiener Parks, wo man ab und an auch Watschen von anderen Kids bekommen hat, die diesen in numerischer Überlegenheit und der Gewissheit des Rückhalts älterer Brüder als ihr Revier betrachteten.
Das allgemeine Faible für Fußballer, die Suche nach Idolen. Meins war beispielsweise Michael Konsel; wie gesagt, ich spielte gern im Tor, wenn auch eher schlecht (erst ab ca. 15 herum konnte ich mich vom "Eiergoalie" zu einem, wie ich mir zumindest einrede, halbwegs passablen Torhüter mausern). Im Zuge der EM 2008 hatte ich die Gelegenheit, kurz mit ihm zu plaudern. Konnte ihm leicht angeheitert und mit einem kleinen Rest kindlicher Nervosität meine damalige Bewunderung gestehen. Zwei, drei irgendwie seltsam anmutende Fotos sind dabei auch entstanden (zum Glück war die Kompaktkamera dabei).
Fußball: Eine gemeinsame Sprache
Fußball, das konnte man heute etwa auf Facebook, in Foren, den Kommentaren unter den Artikeln oder Twitter einmal mehr sehen, verbindet. Man denke nur an die Coca Cola Werbung zur EM 2008. Zwei Männern, die gemeinsam in einem Zugabteil sitzen; auch wenn sie keine gemeinsame Sprache sprechen, kommunizieren sie hervorragend: Durch die simple Erwähnung von großen Fußballern, gefolgt mit einem "ooooh" als Ausdruck der Begeisterung. Ja, so funktioniert das wirklich, selbst erlebt, unabhängig von gemeinsamer Sprache, quer durch Schichten und Kulturen. Egal, ob beim Bundesheer oder Taxifahrten in fern und weniger fern gelegenen Ländern.
Die Nennung von Namen, vorzugsweise aus einer prägenden Zeit, löst bei Fuballfans unweigerlich eine Reihe von Assoziationen aus. Ich muss neben der damaligen Rapidmannschaft (vermutlich, weil eingangs von der WM 1994 die Rede war), etwa an Roberto Baggio und seinen im Finale verschossenen Elfmeter 1994 denken; an mein zweites Torwartidol Oliver Kahn und daran, wie er Andreas Herzog ("unseren" Andi! Die Zehe der Nation!) gewürgt hat, aber auch daran, dass er beim Karlsruher SC im Tor stand, als dieser von der damaligen Austria Salzburg aus dem UEFA-Cup geworfen wurde. Viele andere Namen und damit einhergehende Episoden kommen in den Sinn, drei seien noch genannt. Toni "Rambo" Pfeffer und sein legendäres Interview bei der 0:9-Niederlage gegen Spanien. Andreas Ogris Stirn an Stirn mit Didi Kühbauer. Ivica Vastic, Teil des "magischen Dreiecks" bei Sturm Graz, wahnsinnig guter Techniker, aber Schwalbenkönig. Das Spiel mit der fußballerischen Nostalgie könnte man jetzt ewig so weiterspielen. Der Tod von Trifon Iwanow hat wohl bei so einigen ähnliche Auswirkungen mit sich gebracht: Einen "walk on the memory lane" der 1990er mitsamt den damit verbundenen Mannschaften, Einzelspielern und anderen höchstpersönlichen (Fußball-)Erfahrungen.
Der Tod und die großen Fragen
Bei so manchem hat der frühe Tod von Trifon Iwanow vielleicht auch ein weitergehendes Grübeln ausgelöst. Über die mit so manchem Todesfall wiederkehrenden (für mich persönlich erst vor wenigen Tagen anlässlich des Tods von Roger Willemsen) großen Themen unseres Daseins: Die eigene und allgemeine Vergänglichkeit, der möglicherweise nicht mehr so weit entfernte Tod naher Verwandter; daran, dass man vielleicht mal wieder die eigenen Großeltern besuchen oder wenigstens öfter anrufen sollte (Selbiges gilt mitunter auch für die Eltern). Die mit fortschreitendem Alter immer schneller vergehende Zeit. Das große "was kommt danach", ob es ein solches überhaupt gibt und wenn ja, wie es aussieht. Oder auch, wie man seine Zeit verbringen möchte beziehungsweise sollte: Das gute Leben, das schon Aristoteles untersucht und beschrieben hat. Von der Frage aller Fragen, also dem Sinn des Lebens, ganz zu schweigen (zur Not bleibt das allgemein bekannte 42).
Es gibt natürlich keine allgemein gültigen und in jedem Falle zufriedenstellenden Antworten. Gerade deshalb tragen wir diese Fragen ja auch ein Leben lang mit uns herum, wobei sie sich tendenziell nur bei konkreten Anlässen stellen (dann dafür umso drängender). Eben beispielsweise dann, wenn ein Fußballer stirbt. Zumindest so lange, bis die nächste Ablenkung kommt. Und die gibt es ja gerade heute in Hülle und Fülle. Morgen findet zum Beispiel das nächste Wiener Derby statt.

Donnerstag, 11. Februar 2016

Der Lugner-Effekt

Richard Lugner, Baumeister der Nation, tritt also zur Bundespräsidentschaftswahl an. Die Häme hat ja bereits vor längerem eingesetzt und wird nun wohl weiter zunehmen – die heutige Pressekonferenz mitsamt den dazugehörigen Tweets war ein erster Vorgeschmack. Der Bundespräsident, das ist in Österreich schließlich ein (nahezu ausschließlich) repräsentatives Amt, eine Art Ersatz-Kaiser – freilich ohne dessen weitreichenden realpolitischen und juristischen Kompetenzen. Fix ist dennoch: Damit kommt mehr Bewegung in die Sache.
Richartd Lugner weist freilich Parallelen zu Frank Stronach oder gar Donald Trump auf. Erfolgreiche Unternehmer im fortgeschrittenen Alter (erstere beide bereits jenseits der 80), die eigenwillig denken und viel Angriffsfläche bieten. Man riecht förmlich, wie lustige und halblustige Journalisten, Komödianten und wer auch immer sich auf deren Kosten gerne amüsiert, nach peinlichen Auftritten gieren. Dazu kommt ihr Faible fürs weibliche Geschlecht, das sie in einer Weise öffentlich inszenieren, die geschlechtersensibilisierten Menschen als Relikt aus Zeiten erscheint, die man überwunden sehen möchte.
Man kann an diesen Männern jedoch ungeachtet der zahlreichen berechtigten und teilweise auch überzogenen Kritikpunkte auch etwas anderes sehen. Immerhin sind sie authentisch. Sie scheinen auf Coaching großteils, wenn nicht zur Gänze, zu verzichten. Vielmehr reden sie einfach „wie ihnen der Mund gewachsen ist“, also ohne Rücksicht auf Verluste, Shitstorm und dergleichen. Was freilich insbesondere im Falle Trumps hochproblematisch ist, da er wesentlich mehr Erfolg und Reichweite als seine österreichischen Pendants hat und seine ungleich radikaleren Aussagen im Zusammenhang mit der wesentlich bedeutsameren US-Präsidentschaftswahl tätigt.
Aber dieser Zugang hat zumindest irgendwo auch etwas Erfrischendes. Keine leeren Worthülsen, kein langes Zuwarten, um ja nichts Falsches zu sagen, keine Versuche, Dinge zu sagen, von denen man glaubt, dass sie im Moment gut ankommen. Kurzum: All das, was an der modernen Politik bisweilen anstrengend ist oder gar nervt. Auch Armin Wolf verdankt seinen Erfolg dem simplen Faktum, dass er standardisierte Ausweich-Antworten oft genug einfach nicht zulässt, sondern nachhakt. Schließlich hat man insbesondere bei den „Elefantenrunden“ und anderen TV-Großauftritten nicht mehr das Gefühl, einen ganz normalen Menschen vor sich zu haben, sondern das aalglatte Endprodukt zahlreicher Briefings und Rhetorikschulen. Wo Österreich freilich noch nicht so weit ist wie die USA. Hier gibt es letzten Endes doch noch Politiker, die – mag man von ihnen halten, was man will – „kernig“ bis „urig“ wirken („man bringe den Spritzwein!“). Langfristig wird es jedoch wohl zu einer weiteren Zunahme des Coaching-Wahns und der dazugehörigen Entfremdung der Person des Berufspolitikers kommen.
Hier liegt der zweite durchaus positive Aspekt an diesen alten Männern. Sie sind „Quereinsteiger“, die sich ihre Sporen fernab der Politik verdient haben. Denen das soziale Feld der Politik fremd ist. Auch deshalb wirken sie ungeachtet ihres Wohlstands bisweilen wesentlich volksnäher – was sie ja auch gerne betonen – als die Damen und Herren aus den Reihen der Spitzenpolitik, die oftmals wenig bis keine Erfahrungen in der „Privatwirtschaft“ gesammelt haben. Das Durchlaufen der parteilichen Tretmühle führt unweigerlich auch dazu, dass man in einer eigenen Welt – man kann es eine „Politikerbubble“ nennen – lebt. Viele dürften im Alltag wenig bis gar nichts mit 0815-Bürgern, insbesondere der "Unterschicht" zu tun haben (zumindest wirkt es so). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied: Auch wenn ich Richard Lugner nicht persönlich kenne – wenn ich mit ihm plaudern will, brauche ich nur ab und an in die Lugnercity zu gehen. Für ein Plauscher’l ist er angeblich immer zu haben.

Montag, 8. Februar 2016

Roger Willemsen – ein Nachruf

Roger Willemsen ist tot. Jeden berühren ja andere Todesfälle von Menschen, bei denen man irgendwie das Gefühl hatte, sie zu kennen ohne sie zu kennen. Weil der Mensch einen mit seinem künstlerischen Werk, sei es musikalisch, schriftstellerisch oder sonstwie, berührt hat etwa. Erinnert sich an einen ganz bestimmten Moment – einen von denen, die das Leben eben ausmachen, von denen man glaubt, dass man sich an sie erinnert, wenn es mit einem selbst zu Ende geht – eine Lebensphase, in der das Werk eine Rolle gespielt hat; Musik als Teil des ganz persönlichen (Lebens-)Soundtracks oder ein Buch im Rucksack als steter Begleiter bei der Art von Reisen, wie man sie nur in jungen Jahren unternehmen kann.
Roger Willemsen, genauer gesagt sein Buch "Der Knacks" war so etwas für mich. Es beginnt mit dem Tod seines Vaters und darum, wie der Tod damit sein Leben schon früh geprägt hat. Eben alles irgendwie anders geworden ist. Um darauf aufbauend weitere, freilich nicht-empirische Thesen zu diesen Knackpunkten des Lebens, diesen Momenten und Phasen, die alles verändern, auszuformulieren. Schöne Gedanken, ohne Struktur, die ohnehin gestört hätte. Die Lektüre ist zu lange her, um sich an Details zu erinnern; aber der Eindruck ist immer noch da. Oft genug entscheidet letztlich ohnehin das, was man selbst aus einem Buch macht und was davon bleibt.
Das Buch selbst befindet sich nicht mehr in meinem Buchregal. Entweder verborgt – da weiß man wieder, wieso man Bücher nur ungern herborgt – oder jemandem geschenkt, mitunter in einer schwierigen Situation. Ist auch nicht so wichtig. Es ist die Art von Buch, die man jemandem schenkt, der gerade in einer Umbruchphase – das meint Willemsen ja mit "Knacks" – steckt. Und Bücher, das kann man bei Viktor Frankl sehr schön lesen, sind ja ein hervorragendes Therapeutikum.
Amazon sei Dank kann man Bücher über die Vorschaufunktion ja teilweise vorab begutachten; und die entscheidende Passage ist verfügbar. Sehr eigentümlich, diese Zeilen jetzt zu lesen. Ein wenig bekommt man den Eindruck, als hätte Willemsen diese Zeilen auch für sich geschrieben – schließlich ist auch er einem Krebsleiden erlegen:

Denn so viel wusste ich sofort: Sterben würde mein Vater, an Krebs sterben, trotz aller Bestrahlungen und günstig klingenden Befunde, sterben an etwas, das unter dem von den Strahlungen rot gewordenen Fleck auf seiner oberen Rückenpartie saß – eine Stelle wie ein mittelschwerer Sonnenbrand. Diese raue Stelle war das einzig Äußerliche, das uns die Krankheit zu sehen gab. Nein, es war ja nicht einmal die Krankheit, die sich zeigte, es war der ärztliche Versuch einer Therapie, die auf Strahlen, Verbrennungen, Verätzungen, auf Ausmerzungsprozesse im Innern des Vaterleibes setzte. Wir alle haben diese Stelle manchmal eingecremt, die einzige Spur der Krankheit berührt, eine Rötung bloß, eine Bagatelle.
Doch der Knacks? Nicht das Wort »Krebs« löste ihn aus, nicht der Kochlöffel, nicht das Bild des Vaters im Krankenhausbett und auch nicht der Blick aus seinen Augen, als er sich, schon von Morphium benebelt, im Kissen aufrichtete, auf mich zeigte und fragte: » Wer ist das?«Auch die Nachricht von seinem Tod an jenem Augustnachmnittag war nicht der Knacks. Dies alles waren Schocks, Detonationen, Implosionen. Der Knacks war das weiße Huhn, das wiedergefundene Unwiederbringliche.Die Trauer ist das eine. Das andere ist der Eintritt in eine Sphäre des Verlusts. Anders gesagt: Der Verlust ist das eine, das andere aber ist, ihn dauern zu sehen und zu wissen, wie er überdauern wird: Nicht im Medium des Schmerzes und nicht als Klage, nicht einmal expressiv, sondern sachlich, als graduelle Verschiebung der Erlebnisintensität.Man könnte auch sagen: Etwas Relatives tritt ein. Was kommt, misst sich an diesem Erleben und geht gleichfalls durch den Knacks. Es ist der negative Konjunktiv: Etwas ist schön, wäre da nicht ... Es tritt ein Moment ein, in dein alles auch das eigene Gegenteil ist. Als kämen, auf die Spitze getrieben, die Dinge unmittelbar aus dem Tod und müssten sich im Leben erst behaupten und bewähren.
Todesfälle regen oft genug unvermeidlich zum Nachdenken an; was sie auch tun sollen.  Sie rücken Dinge in Perspektive und werfen die gute alte Frage nach dem auf, worauf es im Leben wirklich ankommt. Darauf, dass vieles, das einen für den Moment intensiv beschäftigt oder gar mitnimmt, auf die Lebensspanne gesehen von lediglich verschwindend geringer Bedeutung ist. Dann denken wir zumindest kurz über die großen, oft banal daherkommenden Themen nach. Der berühmte Psychologe Irvin Yalom erzählt dementsprechend gerne davon, dass er seine Klienten in der ersten Sitzung dazu auffordert, auf einer Lebenslinie einzuzeichnen, wo sie sich gerade befinden. Um ihnen die Binsenweisheit, die wir dennoch wieder und wieder vergessen, klarzumachen: Heute, jetzt gerade beginnt der Rest deines Lebens.
Und ganz allgemein scheint uns der Gedanke an das eigene Ableben paradoxerweise glücklich machen zu können: Lässt er uns doch der eigenen Vergänglichkeit gewahr werden. Gibt Anlass, existenzielle, langfristige Ziele mit kurzfristigen Begierden abzustimmen. Und wirft die essentielle Grundfrage auf, ob wir unsere beschränkte Lebenszeit sinnvoll einsetzen, was freilich gegebenenfalls zum gebotenen Umdenken anregen kann – wofür es, und auch das klingt pathetisch (aber das liegt einfach am Thema) nie zu spät ist.


Donnerstag, 4. Februar 2016

wenn die Wirte sterben

Unternehmer im Allgemeinen und Gastronomen/Wirte im Besonderen werden in Österreich bekanntlich seit je her und mittlerweile wohl mehr denn je schikaniert. Stichwort "Registrierkassa" (was zB fürs Schweizerhaus einfach nur wahnwitzig ist in der Umsetzung).
Das Traurige daran: Es ist schon länger so, wie man selbst beim Besuch des wirklich empfehlenswerten "Dritte Mann"-Museums sehen kann. Dort hängt, klein und leicht übersehbar, ein Ausschnitt von einem kurzen Bericht zur Schließung des von Anton Karas, der Musiker hinter der unverkennbaren Filmmusik, betriebenen Heurigen ("The Karas zither is silent"): "because taxation is killing me"

Montag, 1. Februar 2016

Obergrenzen und Außenpolitik

Asyl-Obergrenzen werden derzeit intensiver debattiert denn je. Vieles ist ungeklärt: Wie lässt sich das mit der gegebenen Rechtslage vereinbaren (die Genfer Flüchtlingskonvention sieht keine Obergrenzen vor) durchführen, kann man überhaupt effektiv und ohne Anwendung von Waffengewalt Menschen vom Einreisen abhalten, würde es gerade in Österreich ohnehin nicht funktionieren (Stichwort Schludrian). Die Gretchenfrage dürfte indes darin bestehen, ob es eine solche überhaupt gibt und ab wann sie erreicht ist.
Aus der Vielzahl der Meinungen, die es zu diesem Thema gibt, sticht Paul Collier hervor. Er hat mit "Exodus" eines der bedeutendsten Bücher zum Thema Einwanderung geschrieben. Grundsätzlich beschreibt er darin dafür, zwischen den Interessen des Ziellandes und der Notwendigkeit, Asyl zu gewähren beziehungsweise Migration zuzulassen, entsprechend abzuwägen – kurzum, Migration zu steuern, weil sonst am Ende niemand etwas davon hat. Ab einer gewissen Anzahl scheitert die Integration. Er sieht dabei nicht die ökonomischen Folgen von Migration (also die zuletzt von Hans-Werner Sinn angestoßene Debatte, ob Zuwanderung im Allgemeinen ein Minusgeschäft darstellt), sondern die sozialen Folgen als entscheidend an. Kulturelle Diversität birgt enorm viel kreatives Potenzial und somit Raum für Innovation. Ab einer gewissen Anzahlgeraten Gesellschaften jedoch in eine Schieflage und die Stimmung droth zu kippen weil
"das gegenseitige Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft tendentiell sinkt, wenn die Verschiedenheit durch Einwanderung zunimmt. Für die modernen und reichen Gesellschaften ist das deshalb von Bedeutung, weil wir unzählige, sehr komplexe Institutionen haben, die auf gegenseitigem Vertrauen und Kooperation aufbauen, etwa in unseren Sozialsystemen. Wenn eine Gesellschaft zu verschieden zusammengesetzt ist, wird es schwieriger, die Kooperation in solchen Systemen zu organisieren. Das ist in der Forschung nicht kontrovers, sondern Standard."
Eine vernünftige, die Erkenntnisse Colliers einbeziehende Debatte rund um die Aufnahmekapazitäten und -bereitschaft der beliebtesten Zielländer scheitert nach wie vor an der Vermischung von Zuwanderung und Asyl. Daher reden jene, die betonen, dass Menschlichkeit keine Grenzen kenne und jene, die auf die die Grenzen des Schaffbaren verweisen, in der Regel aneinander vorbei. Wie man diese beiden Bereiche effektiv voneinander trennen möchte, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Völlige Abschottung gilt als kalt, unbegrenzte Zuwanderung auf dem Asylweg als unrealistisch. Selbst die linke Ikone Slavoj Zizek findet äußerst harte Worte für letztere Position:
"Die größten Heuchler sind zweifellos diejenigen, die offene Grenzen propagieren: Insgeheim wissen sie, dass es dazu nie kommen wird, weil eine populistische Revolte in Europa die Folge wäre. Sie spielen die schöne Seele, die sich über die verdorbene Welt erhaben fühlt, aber heimlich gern mit dabei ist. Auch die populistischen Einwanderungsgegner wissen ganz genau, dass es den Afrikanern, wenn man sie sich selbst überlässt, nicht gelingen wird, ihre Gesellschaften zu ändern. Warum nicht? Weil wir Westeuropäer sie daran hindern. Es war die europäische Intervention in Libyen, die das Land ins Chaos stürzte. Es war der US-amerikanische Angriff auf den Irak, der die Bedingungen für den Aufstieg des IS schuf. Der anhaltende Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik zwischen dem christlichen Süden und dem muslimischen Norden ist nicht einfach nur ein Ausbruch ethnischen Hasses, er wurde durch die Entdeckung von Ölvorkommen im Norden ausgelöst: Frankreich (mit den Muslimen verbunden) und China (mit den Christen verbunden) kämpfen mithilfe ihrer Stellvertreter um die Kontrolle über das Öl."
Damit spricht er einen wichtigen, mitunter den entscheinden Punkt an: Militärische und sonstige Interventionen, die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen im Ausland oder fragwürdige Pläne, die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern (so zerstört die EU-Subventions- und Handelspolitik im Agrarbereich seit je her die afrikanischen Märkte beziehungsweise lässt sie sie gar erst nicht entstehen) haben massive Folgen, die nun an die Pforte der wohlhabenderen europäischen Staaten klopfen. Europa und "der Westen" ist gewiss nicht alleine schuld, hat aber einen entscheidenden Anteil.
Es gilt, Probleme zu identifizieren und zu bennen, sich dabei auch von tradierten Weisheiten zu verabschieden. Der Flüchtlings- und Migrationsstrom erfordert ein fundamentales außenpolitisches Umdenken. Was konkret getan werden muss, steht freilich auf einem anderen Blatt. Um hier Lösungen zu finden, muss man sich zuerst des Problems bewusst werden.