Freitag, 27. November 2015

Ist der Islamische Staat ein Staat?

meine Antwort auf die Frage, ob der Islamische Staat ein Staat im Sinne des (Völker)Rechts ist (erschienen auf jusportal.at):

Der Islamische Staat (IS, bzw. ISIS, mittlerweile auch unter seiner arabischen Bezeichnung Daesh bekannt) steht nach den Anschlägen von Paris mehr denn je im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. Ein dabei stetig wiederkehrendes Thema betrifft die Staatsqualität dieses Gebildes, die weder in der Lehre (so etwa erst jüngst hier), noch in der Staatenpraxis (daher etwa die Diskussion rund um die „unable or unwilling“-Doktrin und, allgemeiner, das Selbstverteidigungsrecht gegen nicht-staatliche Akteure) allgemein zurückgewiesen wird.
Konsequenzen der Staatlichkeit
Die Ablehnung der Staatseigenschaft des Islamischen Staats liegt nicht zuletzt an den weitreichenden Rechtsfolgen einer derartigen Einstufung.
So käme das völkerrechtliche Gewaltverbot zur Anwendung, wonach der Islamische Staat keinen anderen Staat angreifen dürfte, umgekehrt allerdings vor Angriffen durch andere Staaten geschützt wäre (freilich erst, sobald er sich friedlich verhält). Auch die seit 9/11 schwelgende Debatte bezüglich des Selbstverteidigungsrechts gegen terroristische Angreifer hätte sich jedenfalls in diesem Zusammenhang erübrigt.
Eine weitere Rechtsfolge der erwähnten Charakterisierung als Staat wäre die Anwendung der auf zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte anwendbaren Regeln des humanitären Völkerrechts, womit seine Kämpfer als Kriegsgefangene zu behandeln und insbesondere nach Ende des Konflikts grundsätzlich auch wieder freizulassen wären.
Ausländische Kämpfer in den Reihen des Islamischen Staates dürften zudem von ihren Heimatstaaten ausgebürgert werden, sofern sich diese als Staatsangehörige qualifizieren lassen – sie wären somit schließlich nicht staatenlos.
Außerdem wäre die Unterstützung von Frankreich, das jüngst die Beistandspflicht der EU ausgerufen hat, nur schwer mit der Neutralität von Staaten wie Irland, Schweden oder Österreich vereinbar, da sie die Parteinahme in zwischenstaatlichen Konflikte ausschließt.
Staatlichkeit? Das kommt darauf an…
Aus völkerrechtsdogmatischer Sicht verlangt die Einstufung des Islamischen Staats allerdings nach einer näheren Erörterung beziehungsweise erscheint die Sache zumindestprima facie weniger klar. Oder, um die berüchtigte Standard-Juristenantwort zu bemühen: „Das kommt darauf an.“ Sieht man die drei allseits bekannten Jellinek‘schen Elemente – Staatsgebiet, Staatsgewalt und Staatsvolk – als gegeben an? Verlangt man als zusätzliches Element die Fähigkeit zur Aufnahme internationaler Beziehungen beziehungsweise, damit zusammenhängend, welche Bedeutung misst man der Anerkennung bei?
Die „drei Elemente“-Lehre
Zum Erfordernis des Staatsgebietes lässt sich sagen, dass der Islamische Staat seine in Syrien gelegenen Stellungen (im Gegensatz zu jenen im Irak) seit Juni 2014 zu weiten Teilen halten konnte. Das Staatsgebiet muss nicht eindeutig festgelegt und allgemein anerkannt sein. Entscheidend ist die Kontrolle über einen gewissen Teil. So wurde Albanien 1920 trotz fehlender Staatsgrenzen in den Völkerbund mit der Begründung, dass die allgemeine Anerkennung und Behandlung als Staat ab der Schaffung Albaniens im Jahr 1914 weiter fortbestand, aufgenommen. Daneben gilt auch Israel allgemein als Staat, obwohl es nach wie vor über keine eindeutigen und allgemein anerkannten Grenzen verfügt.
Allenfalls könnte man einwenden, dass es sich um syrisches beziehungsweise irakisches Gebiet handelt, das betroffene Territorium also einem bestehenden Staat gehört. Die Entstehung eines neuen Staats wäre folglich nur im Wege einer Sezession beziehungsweise einer Separation möglich. Der Islamische Staat selbst hat bereits im Juni 2014 ein Kalifat ausgerufen, was letztlich einer Art Unabhängigkeitserklärung gleichkommt. In diesem Zusammenhang ist jedoch festzuhalten, dass es sich nicht um eine klassische Sezessionsbewegung (und im Übrigen auch nicht um konventionelle „Aufständische“) handelt: Der Islamische Staat beabsichtigt nicht, einen mehr oder minder fest umrissenen Teil aus einem bestehenden Staat herauszulösen, sondern strebt die Eroberung von Gebieten mehrerer Staaten an und verfolgt letztendlich die Errichtung eines weltweiten Kalifats.
Dessen ungeachtet ist es, wie auch bei klassischen Sezessionen, aus Sicht des Vorliegens eines Staatsgebiets von entscheidender Bedeutung, ob man dieses von der Zustimmung des vom Verlust betroffenen Staats entkoppeln kann oder nicht.
Auch das Element des Staatsvolks wirft Fragen auf, die sich nicht eindeutig beantworten lassen; dieser Begriff ist, wie auch sein semantischer Cousin „Nation“, schließlich heftig umkämpft und nicht eindeutig definiert beziehungsweise definierbar. Hier lassen sich zwei Ansichten unterscheiden. Manche sehen die Betroffenen als Geiseln fremder Invasoren, womit von keinem Staatsvolk gesprochen werden könnte. Andererseits scheint der Islamische Staat für die betroffene sunnitische Bevölkerung (selbstverständlich nicht für dieanderen verfolgten und in ihren Menschenrechten systematisch verletzten Minderheiten – allen voran der Völkermord an den Jesiden) angesichts der mäßig beliebten Alternativen – die schiitisch dominierte Regierung im Irak und Assad in Syrien – das geringere Übel darzustellen. Obendrein hat er es geschafft ein gewisses Maß an innerer Ordnung zu garantieren.
Jedenfalls nicht erforderlich ist eine tiefgreifende Verbundenheit mit dem Staat oder ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Staatsgrenzen sind letztlich zumeist ein Produkt politischer Willkür, dafür reicht bereits ein kurzer Blick auf die afrikanische Landkarte. Die dortigen Grenzen gehen auf die Kongokonferenz von 1884-1885 zurück, bei der ohne Rücksicht auf die Betroffenen auf ungenauen Karten Grenzen gezogen und bestehende Volksgruppen getrennt beziehungsweise zusammengepresst wurden. Auch die im Sykes-Picot-Abkommen nach Ende des Osmanischen Reichs festgelegten Grenzen im Nahen Osten werden von vielen als historisches Unrecht oder jedenfalls als von außen aufoktroyiert wahrgenommen (man denke etwa an die symbolträchtigen Videos an der Grenze zwischen dem Irak und Syrien, siehe hier oder hier). Erachtet man ein geringes Maß an moralischem Rückhalt für den Staat als ausreichend, dürfte das Kriterium des Staatsvolks im Falle des „Islamischen Staat“ durchaus gegeben sein.
Das Kriterium der Staatsgewalt ist nach innen angesichts der soeben angesprochenen Gewährleistung von Ordnung relativ unproblematisch. Auch nach außen scheint der Islamische Staat unabhängig zu sein. Wiewohl sich die verschiedenen wechselseitigen Vorwürfe hinsichtlich möglicher Unterstützungen vom Schreibtisch aus nicht verifizieren lassen, scheint ihn derzeit kein Staat hinreichend zu kontrollieren. Er hat sich vielmehr gewissermaßen verselbstständigt, jedenfalls lässt sich derzeit nicht sagen, dass es sich um eine Marionette irgendeines anderen Staats handelt. Außerdem gilt es gerade beim Islamischen Staat zu betonen, dass das Kriterium der Staatsgewalt keine bestimmte Staatsform beziehungsweise Verfasstheit oder die Wahrung der Menschenrechte verlangt. Jedenfalls die traditionelle Auffassung stellt allein auf die effektive Kontrolle nach innen und die Unabhängigkeit nach außen ab.
Zusätzliche Kriterien?
Zwei der zusätzlich gelegentlich ins Feld geführten Kriterien der Staatlichkeit – James Crawford bespricht in der zweiten Auflage seines Klassikers The Creation of States in International Law von 2006 etwa das dauerhafte Bestehen und die Bereitschaft und Fähigkeit, das Völkerrecht einzuhalten – sind, wie James Crawford betont, letztlich genau genommen lediglich für die Frage der Anerkennung von Bedeutung. Außerdem kennt die Geschichte eine Reihe von Staaten, die nur kurzfristig Bestand hatten (Britisch-Somaliland existierte etwa für lediglich fünf Tage!). Dauerhaftigkeit wird insofern eher als Indiz für die Erfüllung der drei Staatskriterien angesehen.
Zwei weitere von Crawford besprochene mögliche Staatskriterien sind ein bestimmter Zivilisationsgrad und das Vorliegen einer Rechtsordnung. Aufgrund der Unmöglichkeit eines allgemein akzeptierten Standards hinsichtlich des historisch vorbelasteten Terminus der Zivilisation wird hier allerdings lediglich ein Minimum an Ordnung und Stabilität gefordert. Dieses ist beim Islamischen Staat, wie gesagt, gewiss gegeben. Ähnlich verhält es sich mit der Notwendigkeit einer bestehende Rechtsordnung: Diese stellt bei genauerer Betrachtung einen Teilaspekt des allgemeinen Kriteriums der Staatsgewalt dar, der obendrein ebenfalls nicht allzu restriktiv gehandhabt wird. Es erscheint jedoch durchaus denkbar, dass die Staatenpraxis zum Islamischen Staat zu einer Renaissance dieser beiden Kriterien führt, wenn es um allgemein abgelehnte extremistische Gruppierungen geht.
Die Frage der Anerkennung
Sofern der Islamische Staat die „drei Elemente“ in der Tat erfüllt, richtet sich seine Staatsqualität danach, welche Bedeutung man einer allfälligen Anerkennung beimisst – also ob man die konstitutive, die deklarative Theorie oder eine Mischform vertritt.
Zur Wiederholung des klassischen Lehrbuchwissens: Der deklarativen Theorie zufolge ist die Anerkennung durch andere Staaten irrelevant für das Vorliegen von Staatlichkeit. Es kommt alleine darauf an, ob die drei Elemente gegeben sind. Gerade anhand des Islamischen Staats zeigt sich folglich eine fundamentale Schwäche dieser Theorie. Daran ändern auch allfällige Versuche nichts, dem Islamischen Staat eines oder mehrere der drei Elemente abzusprechen – konsequenterweise müsste man außerdem bei zahlreichen bestehenden Staaten aber auch bei im Entstehen begriffenen und bereits teilweise als solche anerkannten Staaten ebenso streng vorgehen. Letzten Endes läuft die deklarative Theorie im Allgemeinen darauf hinaus, jedes Gebilde, das über ein Staatsvolk verfügt und unabhängig von außen ein gewisses Gebiet effektiv kontrolliert, als Staat anzusehen. Ein unbefriedigender Zustand, der sich mit dem Aufstieg der Menschenrechte oder auch dem mittlerweile weithin anerkannten Denken über Souveränität nicht vereinbaren lässt.
Dagegen wendet sich die konstitutive Theorie, derzufolge es pace Kelsen im Völkerrecht aufgrund seiner (dezentralen) Struktur das Vorliegen bestimmter Fakten nicht zwingend Rechtsfolgen nach sich zieht. Erst durch die Anerkennung entsteht ein faktisch bereits bestehender Staat auch de iure. Allerdings entsteht er nur gegenüber dem anerkennenden Staat Bei fehlender universaler Anerkennung könnte es folglich zu einer Zwitterstellung als Staat und Nicht-Staat kommen: Ein und dasselbe Gebilde wäre für manche Staaten ein Staat, für andere jedoch wiederum nicht. Hier liegt die entscheidende Schwachstelle der konstitutiven Theorie. Gleichzeitig muss man ihr jedoch zugutehalten, dass dadurch substanzielle Standards im Inneren – also die Art der Verfasstheit oder die Einhaltung der Menschenrechte – über Umwege in den Staatsbegriff miteinfließen können. Der Islamische Staat wäre so gesehen kein Staat im Sinne des Völkerrechts.
Der goldene Mittelweg besteht darin, das in der Montevideo Konvention von 1933 zusätzlich genannte Element der Fähigkeit, mit anderen Staaten Beziehungen aufzunehmen, nicht als bloße Folge des Vorliegens der drei Elemente anzusehen, sondern als eigenständiges Kriterium. Demgemäß wäre für das Vorliegen der Staatseigenschaft jedenfalls die Anerkennung durch einige Staaten erforderlich. Diese würde wiederum nicht nur gegenüber den anerkennenden Staaten gelten, sondern objektiv, also für alle. Auch nach dieser Theorie lässt sich die Staatlichkeit des Islamischen Staats zurückweisen ohne sich in den Details der drei Elemente zu verfangen.
Andere Formen der Völkerrechtssubjektivität
Selbst wenn der Islamische Staat – jedenfalls für Vertreter der beiden letztgenannten Ansätze – kein Staat im Sinne des Völkerrechts ist, genießt er dennoch eine gewisse Völkerrechtssubjektivität. So handelt es sich zweifelsohne um eine „am Konflikt beteiligten Partei“ im Sinne des den vier Genfer Konventionen gemeinsamen Artikel 3. Darüber hinaus fällt er auch unter den Begriff der nicht-staatlichen bewaffneten Gruppe des Zweiten Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen, das von „anderen organisierten bewaffneten Gruppen […], die unter einer verantwortlichen Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebiets der Hohen Vertragspartei ausüben, daß sie anhaltende, koordinierte Kampfhandlungen durchführen und dieses Protokoll anzuwenden vermögen“ spricht (an dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass weder Syrien noch der Irak Vertragsparteien dieses Zusatzprotokolls sind).
Bleibt die Frage offen, ob der Islamische Staat ein de-facto-Regime darstellen könnte. Diese Kategorie soll schließlich gerade jene Fälle erfassen, in denen Gebilde, die für einen längeren Zeitraum ein gewisses Staatsgebiet kontrollieren, zwar nicht anerkannt, aber als eingeschränkte Völkerrechtssubjekte behandelt werden. Gegen eine solche Charakterisierung spricht im Fall des Islamischen Staates die fehlende Dauerhaftigkeit. Zum anderen besteht derzeit und auf unabsehbare Zeit kein Interesse von Seiten anderer Staaten, mit ihm derartige, unterhalb der Schwelle formeller diplomatischer Beziehung liegende Kontakte zu unterhalten. Mehr noch – und hier besteht ein zentraler Unterschied zu den typischerweise genannten Beispielen (Nordzypern, Abchassien, Südossetien oder Taiwan) –, die Staatengemeinschaft arbeitet aktiv daran, das Fortbestehen des Islamischen Staats zu unterbinden. Es erscheint somit unwahrscheinlich, dass er sich in einer längeren Friedensphase konsolidieren und somit ein Mindestmaß an Akzeptanz erlangen könnte (siehe aber den Artikel zu Stephen Walt zu genau diesem Szenario).
Qualifizierte Staatlichkeit
Die Zurückweisung der Staatlichkeit des Islamischen Staats steht durchaus auf einem soliden Fundament. Dennoch ist die Sache bei genauerer Betrachtung nicht so einfach. Als Extrembeispiel zeigt er, dass Staatlichkeit mehr braucht als das Vorliegen der drei Elemente. Plakativ ausgedrückt hat der Islamische Staat die mechanische Anwendung der deklarativen Theorie zu Grabe getragen. Als Ausweg gilt es entweder die Bedeutung der Anerkennung durch zumindest einige Staaten zu betonen oder das Kriterium der Staatsgewalt nicht nur an die bloße effektive Kontrolle, sondern an darüber hinausgehende Erfordernisse entsprechend im Sinne von Rechtsstaatlichkeit oder der Einhaltung der Menschenrechte – allgemein das, was man unter „good governance“ versteht – zu knüpfen. Eine solcherart qualifizierte Auffassung von Staatlichkeit dürfte allerdings im Grunde genommen letzten Endes auch nicht vor bestehenden Unrechtsregimen Halt machen. So gesehen ist nicht zuletzt aus rechtspolitischen Erwägungen die Betonung der Anerkennung als Kriterium für das Vorliegen von Staatlichkeit zu bevorzugen.
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MMag. Ralph R.A. Janik
Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung
Abteilung für Völkerrecht und Internationale Beziehungen
Universität Wien

Dienstag, 24. November 2015

Der Krieg gegen den Islamischen Staat: Postheroismus und die Terroristen von morgen

Seit über einem Jahr fliegen zahlreiche Staaten Luftangriffe gegen die im Irak und Syrien gelegenen Stellungen des „Islamischen Staats“. Die bisherigen Erfolge sind relativ bescheiden. Darüber hinaus treffen die Angriffe zahlreiche Unschuldige, womit die Saat für die Terroristen von morgen gestreut werden könnte. Der Einsatz von Bodentruppen wird aufgrund der damit einhergehenden Gefahren für die eigenen Soldaten indes nach wie vor ausgeschlossen. Die langfristigen Auswirkungen sind nicht absehbar.

Das neue Kriegsbild

Der Krieg hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Das allen voran durch die Schriften des preußischen Generals und Militärtheoretiker geprägte Bild von staatlichen Massenarmeen, die sich auf einem Schlachtfeld gegenüberstehen, hat keine Gültigkeit mehr. Die Kriege unserer Zeit werden von irregulären, oftmals nicht einmal uniformierten Kombattanten mit einfach zu bedienenden und leicht verfügbaren Waffen – symbolisiert durch die AK-47 – geführt. Sofern sie nicht ausschließlich einander bekämpfen – wie etwa in Somalia – stehen sie staatlichen Armeen mit oftmals veralteten Gerätschaften gegenüber, die ursprünglich für die Konfrontation mit anderen Staaten ausgebildet wurden. Daher geraten Zivilisten unvermeidlich ins Visier – oft werden sie etwa sie als „menschliche Schutzschilder“ missbraucht, um damit die technologische Unterlegenheit wettzumachen. Den staatlichen Streitkräften wiederum fehlt es am know how, oft aber auch am Willen, hier bestmöglich zu unterscheiden. 

Der „Kampf von Mogadischu“

In derartigen Konflikten beschränken sich Interventionen von außen in der Regel auf finanzielle Mittel, Waffenlieferungen und Ausbildungsprogramme, mitunter – zumeist allerdings erst, sobald die Lage einigermaßen beruhigt ist – auch auf Friedenstruppen der Vereinten Nationen. Ein darüber hinausgehendes direktes militärisches Eingreifen ist selten und wenn, dann kommt es meistens zur Vornahme von Luftangriffen. Als historischer Hintergrund dafür gilt allgemein die „Schlacht von Mogadischu“, bei der 18 US-Soldaten im unübersichtlichen Häuserkampf auf den Dächern und in den Straßen der somalischen Hauptstadt ums Leben kamen. Die symbolträchtigen Bilder vom wütenden Mob, der die geschändeten Leichen jubelnd durch die Straßen schleift – die US-Soldaten waren aufgrund vorangegangener Angriffe, die auch zahlreiche unschuldige Opfer gefordert hatten, bei weiten Teilen der Bevölkerung in Ungnade gefallen – gingen um die Welt und erhöhten letztlich den innenpolitischen Druck, die US-Truppen schnellstmöglich wieder abzuziehen. Mogadischu hatte gezeigt, dass die USA zwar nicht militärisch, wohl aber über ihr sensibles Rückgrat – die Zivilbevölkerung – verwundbar sind. 

Luftangriffe als „Risiko-Transfers“

Auch wenn die Erfahrungen aus Mogadischu etwa dazu führten, dass die USA wenige Monate später nicht gewillt waren, vor beziehungsweise während dem Völkermord in Ruanda einzugreifen, führten sie zu keinem strikten Non-Interventionismus. Das Dilemma, einerseits handeln und andererseits keine Verluste in den eigenen Reihen hinnehmen zu wollen, verlagerte Militäroperationen endgültig in den Luftraum. So führten die Kampfhandlungen im Zuge der Luftangriffe gegen Serbien aufgrund des Kosovo-Konflikts zu keinen Verlusten auf Seiten der NATO. Die einzigen offiziellen Opfer resultierten aus nicht mit diesen unmittelbar zusammenhängenden Helikopterabstürzen.
Der Preis dafür war jedoch hoch. Schließlich mussten die NATO-Bomber außerhalb der Reichweite der serbischen Fliegerabwehrsysteme fliegen, mit entsprechenden Folgen für die Präzision der Angriffe. Mit anderen Worten: In gewisser Hinsicht wurden die Leben der NATO-Piloten mit jenen allfälliger unschuldiger Zivilisten gegengerechnet, die Gefahren der Kriegsführung also der Zivilbevölkerung des Feindes aufgebürdet. Der Kriegssoziologe Martin Shaw bezeichnet dieses Vorgehen als Risikotransfer-Militarismus“.
Das Muster der Kosovo-Intervention sollte sich 2011 bei der NATO-Operation in Libyen und nun im Zusammenhang mit den Angriffen auf die Stellungen des „Islamischen Staats“ wiederholen. Doch während al-Gaddafis Armee und andere ihm zugehörige Einrichtungen ein leichtes und klar umrissenes Ziel darstellten, scheinen die Angriffe gegen den „Islamischen Staat“ weniger wirksam zu sein. Forderungen nach Bodentruppen sind allerdings aus den genannten Gründen bislang verhallt, man verlässt sich vor allem auf kurdische Kämpfer, die wiederum Erdogans Türkei ein Dorn im Auge sind und die daher nur begrenzt unterstützt werden können, und die „moderaten Rebellen“ (eine freilich fragwürdige Einstufung). Effektiv ist das nicht, US-Präsident Barack Obama räumte auch bereits ein, dass der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ eine Weile andauern werde. Selbst wenn seine in Syrien und im Irak gelegenen Stellungen eines Tages tatsächlich von der Landkarte verschwunden sein dürften, nistet er sich mit jedem zusätzlichen zivilen Opfer der Luftangriffe tiefer in den Köpfen seiner Sympathisanten – die auch in Europa und den USA leben – und der unmittelbar Betroffenen ein. Dementsprechend birgt das momentane Vorgehen auf lange Sicht ein enormes Risiko.

Donnerstag, 19. November 2015

Reads on ISIS

Why Turkey is reluctant to fight ISIS/IS and how it undermines Kurdish efforts (furthermore, it is possible that Turkey funds extremists such as al-Nusra):

http://www.theguardian.com/commentisfree/2015/nov/18/turkey-cut-islamic-state-supply-lines-erdogan-isis?CMP=share_btn_fb 

Good read on the painful "does the Islamic state have anyhting to do with Islam"-debate (spoiler alert: yes, obviously. And pretending it doesn't is not very helpful to spark inner-Islamic reform):

https://www.washingtonpost.com/news/acts-of-faith/wp/2015/11/18/does-isis-really-have-nothing-to-do-with-islam-islamic-apologetics-carry-serious-risks/?postshare=5661447886714901&tid=ss_tw-bottom

See also this article on how you can use the Quran and the life of Mohammed both as a justification and a rejection of ISIS strategy and actions:

https://www.washingtonpost.com/news/acts-of-faith/wp/2015/11/14/after-the-paris-attacks-heres-how-to-think-about-the-relationship-between-isis-and-islam/


Terrorismus und Neutralität

Verteidigungsminister Klugt zufolge könne es bei Terrorismus keine Neutralität geben; eine streitbare Aussage. Sofern Österreich im Rahmen der Terrorismusbekämpfung innerhalb eines Staats, der eine solche Unterstützung erbittet, auch militärische bzw. quasi-militärische Hilfe leistet, ließe sich das argumentieren. Beim Kampf gegen den "Islamischen Staat" ist die Sache allerdings weniger einfach, da sich dieser auf dem Territorium eines formaljuristisch souveränen Staats befindet, der seine Zustimmung dafür bislang nicht erteilt hat. Insofern ließe sich hier militärische Unterstützung durch Österreich nur schwer bis gar nicht mit der Neutralität vereinbaren. Ein solches steht jedoch ohnedies nicht im Raum. Konfliktträchtig ist Klugs Aussage freilich angesichts der seit geraumer Zeit währenden Neutralitätsdebatte dennoch.

Dienstag, 17. November 2015

Frankreich ruft den EU-Beistandsfall aus: Muss Österreich jetzt in den Krieg?

die kurze Antwort: Nein. Wegen der sogenannten "Irischen Klausel" in Artikel 42(7) Vertrag über die Europäische Union (nachfolgend fett):

(7) Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.
Ohne diese Bestimmung wäre Österreichs Neutralität spätestens mit dem Vertrag von Lissabon in jedem Fall nicht mehr gegeben. Auch so lässt sich fragen, inwiefern die EU-Mitgliedschaft sich mit der Neutralität vereinbaren lässt: Schließlich ist die EU, wie man gerade jetzt sieht, ein Verteidigungsbündnis und die Mitgliedschaft in einem solchen ist laut Neutralitätsgesetz eigentlich nicht möglich. Dagegen wird argumentiert, dass die EU aufgrund der irischen Klausel kein klassisches Verteidigungsbündnis sei (jedenfalls nciht im Sinne des Neutralitätsgesetzes; siehe dazu auch diesen ausführlicheren Beitrag von Franz Leidenmühler), weil Österreich gewissermaßen ein Trittbrettfahrer ist – es kann, muss aber nicht bei der Verteidigung anderer Staaten helfen, gleichzeitig kann es die Unterstützung anderer Staaten einfordern. Dagegen lässt sich freilich einwenden, dass der Status als Verteidigungsbündnis unabhängig von den jeweiligen Verpflichtungen ist und das Neutralitätsgesetz genuine Blockfreiheit gemeint hat; womit die EU auch als einseitig-bevorteilendes Verteidigungsbündnis eigentlich gegen gegen das Neutralitätsgesetz verstößt. Insofern wird die (Rechts-)Praxis beim derzeitigen Anlassfall von höchstem Interesse sein.

Samstag, 14. November 2015

a few thoughts on the Paris attacks

there are countless ways to cope with stressful, unforeseen, and disturbing events. Break-ups, the death of a beloved one, or terrorist attacks like those that took place in Paris yesterday, November 13th.
One is to write. Writing helps to structure thoughts and emotions. Sometimes – not always – to gain some distance from the topic dominating your thoughts. That's why people keep diaries, blogs, or, albeit to a different extent due to the 140 character limit, Twitter accounts. Or why some post status updates on Facebook. Obviously, a diary is just for yourself, while the other formats can be read by everyone (while, obviously, most blogs, including this one, are read by a handful of people). You want to be heard, or, at least, you like the thought that you could be heard.

First, terror in general. It has been with us since 9/11 at least. It has brought terror on the soil of the so-called "Western" nations. Of course, there were earlier attacks, the 1986 Berlin discotheque bombing ("La Belle") or the 1993 attacks on the World Trade Center, the first Islamist strikes on US soil. But 9/11 was a game changer and there is no need to write extensively on its impact. Everyone who had reached a certain age at that time remembers the attacks or what he or she did when they occurred. It has reached Europe with the Madrid and London strikes. After a few smaller attacks that triggered a comparatively small outcry, this is the first major attack since then.

Paris reminds us of an inalienable and sad truth: Terror can not be successfully prevented. You can reduce its probability, yes. But you can not eliminate it altogether. Even the most totalitarian state imaginable could not achieve this. It does not take more than a few or even only one determined man and a weapon or explosive belt. Once again, we have to remind ourselves of the need to strike a delicate balance between freedom and security. Easier said than done, obviously. But this must not be forgotten now that politicians rally for more restrictive measures of all kinds, in particular superveillance. Eliminating terrorism altogether is impossible.

The war on terror. It must not be forgotten that France has not only been partly targeted as a symbol for "the West" but primarily because of its role in the fight against the Islamic State (ISIS/IS/ISIL). The Islamic State would not stand a chance against a well-equipped army in an open confrontation. Hence it resorts to terror. It aims at the backbone of liberal democracies, its population. This is what islamist terrorism has been doing over and over again in order to overcome its military inferiority. Spreading fear. In the era of facebook, Youtube, and Twitter, this seems to be easier than ever. A decade ago, we would have been informed via TV, radio-broadcasts, or perhaps because via text messages sent by friends. Now there are even more means to inform us in real-time, with every detail and all sorts of accompanying rumours, thoughts, and commentary. Facebook tells us that people we know are safe or helps us to change our profile picture to "show support". Paris feels as if it was just around the corner.

Some people talk of "selective mourning" and remind us of other terrorist attacks or events that cost countless lives. Media coverage aside, Facebook seems to have opened Pandora's box by enabling the temporary profile picture function. Where do we stop, or, more importantly, where to we start? What other places, events, or armed conflicts should be included? How many dead does it need?
Human nature seems to dictate us to relate more to people that are culturally closer to us than others. Paris is one of the most popular cities to travel to, it is featured in countless movies and we know people living there from Erasmus or other means to study abroad. Even in 2015, we have not overcome tribalism or collectivism. One must further not forget that yesterday's attacks are not only a reaction to the French involvement in the fight against IS/ISIS, but also, as terrorism in general, directed against the concept commonly referred to as "the West". Against the "Western lifestyle", "Western habits", "Western culture". Relatedly, the current wave of attention is not only owed to empathy but also to fear. We are afraid, we could have also been targeted. We could have been at the concert or at the stadium. It is harder than ever to distance oneself, as it was the case after 9/11, by saying that the Americans were party to be blamed themselves and that Europe was comparatively safe as its track record of interference in Islamist countries was not as bad as that of the US.

Psychologically, we must also not forget that empathy is necessarily limited. If we tried to feel empathy for each and every case of human suffering, we would have to kill ourselves over sorrow after having read only the first pages of any newspaper. Is the coldness we feel in connection with many events a reason to remind ourselves of all the other horrors occurring on a daily basis? Yes and no. Yes, so as to avoid occupying ourselves with certain matters while ignoring other, perhaps even more troublesome tragedies. No, or at least only to a certain extent, because of the well-known effect of desensitization.

Normalcy. How long does it take until people start posting videos or pictures of cats again? Until debates are not dominated by this subject? Who are the first to do so?

Facebook (yes, Facebook again). At the beginning, it felt somewhat strange how the Facebook newsfeed algorithm mixed regular (older) posts of all kind with those related to Paris. But upon closer inspection, the "real world" is no different. Yes, people talked about Paris. But at the same time, they ate, talked about other subjects, went out dancing, or read books before going to sleep. Just remember the famous picture showing a group of people sitting and laughing together while you can see the burning WTC in the background (see here).

Western values. There has been an endless debate on this topic. It will keep us occupied for the next decades not only because of Islamism but also because of the refugee crisis and the growth of the Muslim population in Europe. It still seems as if we are not entirely sure what exactly we understand as "our" values. Or, at the very least, seem to be overwhelmed by the simple fact that the freedom of religion clahes with other human rights, first and foremost the freedom of expression, and, more generally, the idea of a secular state. A problem further exacerbated by the fact that many shy away from discussing or criticising Islam and values associated with over fear of being accused of racism.

Lastly, since it is my field of expertise, a few words on international law. Hollande called the attacks an "act of war". His speech can be read as a resort to the concept of "armed attack" in the sense of Article 51. Other acts of terrorism characterized as armed attacks and commonly accepted as triggering the right to self-defense include 9/11, Hezbollah against Israel in 2006, or Hamas against Israel in 2008/2009 and the summer of 2014. While, in particular in connection with the ICJ's Wall-opinion, it has been argued that self-defense can only be invoked against attacks carried out by states, this position has now become even more difficult to maintain. As of now, France is even mulling over invoking Article 5 of the NATO pact meaning that an attack against one member constitutes an attack against all NATO states and they would thus have to react together. This would only be the second time in the history of NATO (the first was after 9/11).

Donnerstag, 12. November 2015

Austria making the headlines of "Foreign Policy"

so, this is perhaps the first time ever that I've read "Austria" in the headline of a Foreign Policy Article. Recently, it has only been mentioned whenever Vienna was the venue for diplomatic conferences (Iran, Syria). And then it's about eating. Austrians eat more than Americans – and everyone else in the world – but Americans are still fatter, that's what the article is about. Yessir, great times to be an Austrian. Not only is the football team currently ranked #10 in the world (the highest rank ever) "we" are also world champs in yearly consumption of food. Now that's something to talk about! Makes one wonder what happened to the good old days of active cold war diplomacy though.

Montag, 9. November 2015

TTIP, Kapitalismus und Neoliberalismus


Spätestens seit der unsäglichen Debatte rund ums Chlorhuhn erhitzt TTIP, die zwischen den EU und den USA geplante „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“, die Gemüter. Hier stehen einander zwei Blöcke gegenüber, die sich prima facie nur schwer bis gar nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

TTIP – pros und cons

Proponenten von TTIP verstehen die Aufregung nicht. Sie betonen die wohlfahrtsfördernde Wirkung von Freihandel im Allgemeinen und die gerade in Zeiten wie diesen drängende weltpolitische Notwendigkeit eines noch näheren Zusammenrückens der EU und der USA. Gerade die Aufregung rund um das Chlorhuhn habe gezeigt, dass hier irrationale Ängste geschürt werden, die einer näheren Betrachtung nicht standhalten. Lapidar formuliert: Ob man ein Huhn mit Antibiotika vollstopft oder in Chlorwasser taucht, läuft letzten Endes mehr oder minder auf dasselbe hinaus. Allgemeiner gesprochen wird oft auch vergessen, dass die EU nicht durchwegs höhere Standards aufweist als die USA. Ebenso stehe die Privatisierung von Wasser oder der Müllabfuhr bis hin zum Kulturbereich nicht zur Disposition. Selbst die besonders große und dementsprechend emotional diskutierte Sorge vor der Internationalen Schiedsgerichtsbarkeit sei verzerrt: Beispielsweise wird bei Klagen und den damit verbundenen in der Tat exorbitant hohen Summen gerne so getan, als wäre bereits ein zu Ungunsten des betroffenen Staats ergehendes Urteil gefällt worden. Tatsächlich gäbe es insgesamt jedoch kaum Urteile, die den Horrorszenarien entsprechen. Hinzu kommt, dass – so etwa bei Vattenfall II – das vorherige Verhalten der betroffenen Regierung gerne unterschlagen wird.
Man könnte jetzt zu jedem einzelnen der oben kurz angeschnittenen Punkte wiederum Gegenargumente anführen; den „chilling effect“, der von der Gefahr einer Klage ausgeht etwa: Damit meint man, dass viele Klagen gar nicht erst eingebracht werden, weil Regierungen es nicht so weit kommen lassen wollen und dementsprechend in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt werden. Dass die Problematik rund ums Chlorhuhn sich weniger um Hygienevorschriften als um Massentierhaltung dreht. Oder, dass die positiven Effekte von TTIP letztlich höchst überschaubar sein dürften beziehungsweise nur Konzernen davon profitieren, nicht aber einzelne Kunden oder Klein- bis Mittelunternehmer.

Die Systemfrage

TTIP ist jedoch Teil einer weitergehenden Debatte. Es erregt die Gemüter letztlich vor allem deshalb, weil es aufgrund seiner Thematik ein weiteres Schlachtfeld in der größeren Systemfrage darstellt, die auch heute, über 25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer, nicht geklärt ist. Gerade hier entzündet sich einmal mehr vehemente Kritik an eindeutig negativ konnotierten Schlagworten wie Kapitalismus und Neoliberalismus.
So gilt TTIP für Befürworter letztlich lediglich als „more of the same“ von ohnehin bereits für selbstverständlich erachteten Prinzipien – Freihandel und Investorenschutz gibt es ja grundsätzlich bereits. Für Kritiker ist dieser status quo als solcher jedoch verfehlt: Statt den bereits vor Langem betretenen Pfad weiterzugehen sollte endlich umgekehrt oder wenigstens eine Abzweigung genommen werden. So gesehen gibt es kein richtiges TTIP im grundsätzlich falschen Wirtschaftssystem. Daher wird die dahingehende Kritik ungeachtet des finalen Ausgangs der Verhandlungen auch nicht verstummen.

Freitag, 6. November 2015

Kelsens Fiktion der Repräsentation

Armin Wolfs streitbares bis fragwürdiges Interview mit Susanne Winter bewegt derzeit die Gemüter, insbesondere jenes von Johannes Voggenhuber. Von außen scheint es, als würden die beiden ein wenig Aneinander vorbeireden. Wolf spricht vom Listenwahlrecht, Voggenhuber betont das von der Wahl als solcher entkoppelte freie Mandat. Falls sich jemand fragt, was er mit "an keinen Auftrag gebunden" gemeint hat, hier die entsprechende Passage aus Kelsens reiner Rechtslehre:

"Wenn man sagt, daß ein Organ in Ausübung seiner Funktion das Volk, das heißt die die Staatsgemeinschaft bildenden Individuen, repräsentiert, wenn man so seine Funktion diesen Individuen zuschreibt, so meint man, daß das Individuum, dessen Funktion man auch der Person des Staates zuschreiben und das daher als Organ des Staate s gelten kann, rechtlich oder auch nur moralisch gebunden ist, seine Funktion im Interesse des Volkes, das heißt der die Staatsgemeinschaft bildenden Individuen auszuüben. Da man im juristischen Sprachgebrauch Interesse mit Wille mehr oder weniger identifiziert, indem man annimmt, daß, was ein Mensch „will", sein Interesse ist, glaubt man das Wesen der Repräsentation darin zu sehen, daß der Wille des Repräsentanten der Wille des Repräsentierten ist, daB der Repräsentant mit seiner Aktion nicht den eigenen, sondern den Willen des Repräsentierten realisiert. Das ist eine Fiktion, selbst dann, wenn der Wille des Repräsentanten durch den Willen des Repräsentierten mehr oder weniger gebunden ist, wie im Falle der rechtsgeschäftlichen Vertretung oder der Repräsentation unter einer ständischen Verfassung, nach deren Bestimmung die Vertreter der Stände an die Instruktion ihrer Wähler gebunden sind und von diesen jederzeit abberufen werden können. Denn auch in diesen Fällen ist der Wille des Vertreters oder Repräsentanten ein vom Willen des Vertretenen oder Repräsentierten verschiedener Wille. Noch offenkundiger ist die Fiktion der Willensidentität, wenn der Wille des Vertreters oder Repräsentanten in keiner Weise durch den Willen des Vertretenen oder Repräsentierten gebunden ist, wie im Falle der gesetzlichen Stellvertretung des Handlungsunfähigen oder der Repräsentation des Volkes durch ein modernes Parlament, dessen Mitglieder in Ausübung ihrer Funktion rechtlich unabhängig sind; was man damit zu kennzeichnen pflegt, daß sie ein „freies Mandat" haben.“ 
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage von 1960), S. 302

Montag, 2. November 2015

Kampfroboter: Die Zukunft hat schon begonnen

Noch bis 9. November tagt das UN-Generalversammlungskomitee zu Entwaffnung und Internationaler Sicherheit. Bislang haben sich dabei 31 Staaten und fünf Staatengruppen auch dem Thema autonomer Waffensysteme (Kampf- oder Militärroboter, darunter fallen auch Drohnen) gewidmet und die Notwendigkeit weitergehender Debatten, teilweise auch eines multilateralen Vertrags zu diesem Thema, betont. Eine Reihe von Aktivisten und Wissenschaftlern – darunter etwa Stephen Hawking, Elon Musk oder Steve Wozniak – hat bereits im Juli Bedenken zu den unabsehbaren Entwicklungen in diesem Bereich geäußert. Bei der breiteren Öffentlichkeit scheint das Thema indes noch nicht ganz angekommen zu sein. 
 Gefahren und Probleme autonomer Waffensysteme
Will man die Sorgen rund um Kampfroboter verstehen, gilt es zunächst hinsichtlich des Autonomiegrads solcher Waffensysteme allgemein in dreierlei Hinsicht zu unterscheiden: Bezogen auf Militärschläge im Speziellenverbleibt die Letztentscheidung zur Vornahme eines Angriffs bei den ersten beiden Kategorien in menschlicher Hand – der Unterschied besteht darin, ob es eine aktive Bestätigung eines vorgeschlagenen Angriffs braucht oder ob er automatisch ausgeführt wird, sofern es zu keinem Abbruch kommt.
Daraus ergeben sich maßgebliche Probleme. Zum einen führt die Distanz zum Einsatzgebiet zu einer Dehumanisierung der potentiellen Ziele und einer möglicherweise gesteigerten Fahrlässigkeit. Wie das berühmte Wikileaks-Video „Collateral Murder“ gezeigt hat, besteht ist diese Gefahr jedoch auch bei nicht-automatisierten Waffen- und Zielsystemen. Gleichzeitig gilt es allerdings zu bedenken, dass vor Ort präsente Soldaten gerade aufgrund der Unmittelbarkeit der Bedrohung für Leib und Leben umso eher vorschnelle und nachträglich sich als falsch herausstellende Entscheidungen treffen.
Ein weiteres Problem besteht im übermäßigen Vertrauen auf computergenerierte Entscheidungen, als „automation bias“ bekannt. So zeigt etwa der internationale Flugverkehr die menschliche Neigung, sich entweder völlig passiv zu verhalten oder, so eine Entscheidung gefordert ist (also jedenfalls bei semi-autonomen Waffensystemen) „im Zweifel der Maschine“ zu glauben, selbst wenn die eigene Intuition oder Expertise zu einem anderen Urteil kommen. Dabei wird oft nicht bedacht, dass die Zuverlässigkeit computergenerierter Entscheidungen letztlich von der Qualität der verfügbaren beziehungsweise eingegebenen Daten abhängt, wo Fehler freilich nicht ausgeschlossen werden können.
Hinzu kommt der ebenfalls aus der Verhaltenspsychologie bekannte „status quo bias“, also die Präferenz für eine vorgegebene, als status quo definierte Handlungsoption. Bei zweiter Kategorie autonomer Waffensysteme tritt überdies der Unwille, einen laufenden Vorgang aktiv abzubrechen anstatt ihn einfach fortlaufen zu lassen, hinzu.
Die größte Sorge besteht freilich hinsichtlich der dritten Kategorie, die voll-autonomen Waffensysteme. Hier spielt der Mensch keine Rolle beziehungsweise wird er lediglich post factum, also nach ausgeführtem Angriff, informiert. Allgemein gründet sich die Ablehnung derartiger „Killerroboter“ auf den intuitiv unangenehmen Gedanken – Filmreihen wie „Terminator“ oder „Matrix“ haben hier ganze Generationen entsprechend sensibilisiert –, eine Maschine mit künstlicher Intelligenz auf Grundlage der Feststellung, ob jemand als Zivilist oder als Kombattant einzustufen ist, über die Tötung von Menschen entscheiden zu lassen. Aus rechtlicher Sicht korrespondieren damit weithin ungeklärte Fragen der persönlichen (strafrechtlichen) Verantwortung. Schließlich könnten bei der derzeitigen Rechtslage aufgrund des fehlenden menschlichen Einflusses beträchtliche Lücken entstehen, womit letzten Endes niemand für durch derartige Roboter verübte Verstöße gegen die Menschenrechte und humanitäres Völkerrecht zur Verantwortung gezogen werden könnte. Ein Bericht von Human Rights Watch und der Harvard Law School International Human Rights Clinic kommt daher sogar zu dem Schluss, die Entwicklung, Produktion und den Einsatz derartiger Waffensysteme durch einen völkerrechtlichen Vertrag zu verbieten.
Alternativlos
Autonome Waffensysteme sind bereits jetzt ein maßgeblicher Bestandteil zahlreicher Konflikte unter Beteiligung technologisch fortgeschrittener Staaten, eine Tendenz –  dafür braucht es kein Orakel – die in Zukunft weiter zunehmen wird. Zum einen lässt sich, wie bei jeder neuen Waffentechnologie, ein dahingehendes Wettrüsten nicht vermeiden. Zum anderen sind autonome Waffensysteme vor allem für die westlichen „postheroischen“ (Herfried Münkler) Gesellschaften besonders attraktiv, um Opferzahlen in den eigenen Reihen zu vermeiden. Durch die Anhäufung vollautonomer Waffensysteme lässt sich die Anzahl im Militärbereich beschäftigter Personen – wie auch jetzt bereits im Industriesektor – überhaupt drastisch verringern. Daher werden auch die Initiativen, vollautonome Waffensysteme aufzuhalten, letztlich nicht fruchten. Wie die Geschichte der Prohibition oder auch der Kampf gegen den Drogenhandel zeigen, lässt sich ein Gut, für das eine entsprechende Nachfrage besteht, per Verbot ohnehin nicht aus der Welt schaffen.
 Ein (dunkler) Ausblick
Je nach Konflikttyp ergeben sich daraus unterschiedliche Konsequenzen, wobei zwei grob vereinfacht zwei Szenarien unterschieden werden können. Ein Kennzeichen vieler moderner bewaffneter Konflikte ist die starke Asymmetrie hinsichtlich der militärischen und technologischen Kapazitäten der beteiligten Akteure. Die schwächeren vermeiden dementsprechend den offenen Kampf und versuchen ihre Unterlegenheit durch Guerilla-Taktiken – Angriffe aus dem Hinterhalt, Vermischung mit der Zivilbevölkerung, die als Schutzschild dient, Nicht-Tragen von Uniformen – und im Extremfall durch Selbstmordattentate wettzumachen. Es erscheint durchaus realistisch, dass in derartigen Konfliktszenarien (fast) ausschließlich Menschen gegen Maschinen kämpfen. Im Extremfall könnte die unterlegene Seite als Reaktion darauf das Kampffeld umso mehr in den Heimatstaat der Roboter verlegen, also dessen Zivilbevölkerung – das verbleibende sensible Rückgrat postheroischer Gesellschaften – verstärkt angreifen.
Das zweite Szenario betrifft zwischenstaatliche Konflikte oder jedenfalls solche, in denen die unterschiedlichen Akteure innerhalb eines Staats von außen durch mächtige Staaten unterstützt werden. Hier erscheint die direkte Konfrontation von automatisierten Waffensystemen äußerst realistisch, wobei sich hier großteils vollautonome Kampfroboter gegenüberstehen könnten, um der Verwundbarkeit durch die Notwendigkeit von Kommandozentralen zu entgehen oder sie zumindest abzuschwächen. Die Folgen für die Zivilbevölkerung wären unabsehbar. Der Idealfall wäre eine modern-bizarre Neuauflage der Kabinettskriege: Einigermaßen geregelte direkte Schlachten auf einem klar bestimmten Kampffeld ohne die Zivilbevölkerung wesentlich in Mitleidenschaft zu ziehen. Das Schreckensszenario wäre in Anlehnung an Clausewitz oder Ludendorff beziehungsweise die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg ein völlig entgrenzter absoluter Roboterkrieg, der sich aufgrund des militärtechnologischen Fortschritts verselbstständigt und auch nicht durch die Politik mäßigen lässt.
Als vor mittlerweile über 30 Jahren der erste Teil der „Terminator“-Reihe in die Kinos kam, schienen derartige Überlegungen zwar furchteinflößend, aber letzten Endes doch weit weg. Mittlerweile hat uns die Zukunft jedoch eingeholt. Einmal mehr läuft die Menschheit Gefahr, dass die Technik dem bestehenden Zivilisations- und Entwicklungsgrad davonläuft. So befremdlich es auch anmuten mag: Es gilt, diesem Thema gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.