Freitag, 6. November 2015

Kelsens Fiktion der Repräsentation

Armin Wolfs streitbares bis fragwürdiges Interview mit Susanne Winter bewegt derzeit die Gemüter, insbesondere jenes von Johannes Voggenhuber. Von außen scheint es, als würden die beiden ein wenig Aneinander vorbeireden. Wolf spricht vom Listenwahlrecht, Voggenhuber betont das von der Wahl als solcher entkoppelte freie Mandat. Falls sich jemand fragt, was er mit "an keinen Auftrag gebunden" gemeint hat, hier die entsprechende Passage aus Kelsens reiner Rechtslehre:

"Wenn man sagt, daß ein Organ in Ausübung seiner Funktion das Volk, das heißt die die Staatsgemeinschaft bildenden Individuen, repräsentiert, wenn man so seine Funktion diesen Individuen zuschreibt, so meint man, daß das Individuum, dessen Funktion man auch der Person des Staates zuschreiben und das daher als Organ des Staate s gelten kann, rechtlich oder auch nur moralisch gebunden ist, seine Funktion im Interesse des Volkes, das heißt der die Staatsgemeinschaft bildenden Individuen auszuüben. Da man im juristischen Sprachgebrauch Interesse mit Wille mehr oder weniger identifiziert, indem man annimmt, daß, was ein Mensch „will", sein Interesse ist, glaubt man das Wesen der Repräsentation darin zu sehen, daß der Wille des Repräsentanten der Wille des Repräsentierten ist, daB der Repräsentant mit seiner Aktion nicht den eigenen, sondern den Willen des Repräsentierten realisiert. Das ist eine Fiktion, selbst dann, wenn der Wille des Repräsentanten durch den Willen des Repräsentierten mehr oder weniger gebunden ist, wie im Falle der rechtsgeschäftlichen Vertretung oder der Repräsentation unter einer ständischen Verfassung, nach deren Bestimmung die Vertreter der Stände an die Instruktion ihrer Wähler gebunden sind und von diesen jederzeit abberufen werden können. Denn auch in diesen Fällen ist der Wille des Vertreters oder Repräsentanten ein vom Willen des Vertretenen oder Repräsentierten verschiedener Wille. Noch offenkundiger ist die Fiktion der Willensidentität, wenn der Wille des Vertreters oder Repräsentanten in keiner Weise durch den Willen des Vertretenen oder Repräsentierten gebunden ist, wie im Falle der gesetzlichen Stellvertretung des Handlungsunfähigen oder der Repräsentation des Volkes durch ein modernes Parlament, dessen Mitglieder in Ausübung ihrer Funktion rechtlich unabhängig sind; was man damit zu kennzeichnen pflegt, daß sie ein „freies Mandat" haben.“ 
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre (zweite, vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage von 1960), S. 302

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