Mittwoch, 17. Februar 2016

Europa: Ein Haus, das bleibt


Viel wird von Europa und damit von der EU geredet. Oft in Sorge. Davor, dass der "europäische Gedanke" im Sterben liegen könnte, geopfert am Altar der Ängste und egoistischer, nationalstaatlicher Interessen. Gerade jetzt, so wird dem entgegengesetzt, müsse man jedoch "mehr Europa wagen", ein Rückfall in die Zeit der Nationalstaaten sei verheerend.
Allein, die Ansichten darüber, was Europa eigentlich ist, gehen auseinander. Selbst die Gleichsetzung von "Europa" mit "der EU" wird nicht allgemein akzeptiert. Europa ist mehr als die EU, besteht schon länger als eben jene und wird – für die ganz Pessimistischen – auch nach einem allfälligen Auseinanderbrechen der EU weiter existieren.
Ketzerische Gedanken. Die EU, ihr Bestand und ihr Fortleben werden nicht in Frage gestellt. Jedenfalls nicht im Mainstream-Diskurs, also von etablierten Journalisten, Wissenschaftlern, Vertretern aus "der Wirtschaft" oder der politischen Elite.
Wer etwas auf sich hält, hat den europäischen Gedanken begriffen. Zweifler, mitunter sogar an der EU als Gesamtkonstrukt, stellen sich schnell ins Abseits, sofern sie nicht ohnehin bereits dort stehen. Irgendwann sind Zusätze wie -"Skeptiker" oder "-Kritiker" von lobenswerten Eigenschaften zu diffamierenden Kainsmalen für jene geworden, die zu weit vom herrschenden Paradigma abweichen.
Der Diskurs ist dementsprechend verengt. Für Grundsatzfragen bleibt wenig Raum. Ja, im Rahmen des baulichen status quo können hie und da ein paar Rädchen gedreht, ein paar Bretter ausgetauscht werden. Aber das Haus wird nicht abgerissen und auch nicht von Grund auf saniert. Für ersteres fehlt es an Alternativen — die Rückkehr einem Europa der Nationalstaaten gilt spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg als gefährlicher Anachronismus – für zweiteres an politischem Willen. Der Esprit der 1990er Jahre mitsamt den dazugehörigen Erweiterungsrunden und dem Vorantreiben der Integration (verstanden als stärkere Zusammenarbeit und Kompetenzabtretung von Seiten der Mitgliedsstaaten) ist dahin. Auch wenn es in den Köpfen so mancher Visionäre weiter in Richtung quasi-Bundesstaat gehen soll, fehlt hier mehr denn je der politische Wille. Gleichzeitig ist auch ein Rückbau undenkbar. Zu dominant die herrschende Vorstellung von den großen Errungenschaften der Verträge von Maastricht, Amsterdam oder Lissabon. Gemeinsame Währungsunion, Wegfall der Grenzen, Außen- und Sicherheitspolitik müssen bei allem Raum für Verbesserungen beibehalten werden.
So wird das Haus vorläufig so weit in Stand gehalten, dass es nicht zusammenbricht. Zum Leidwesen der Mieter – von jenen in den unteren Etagen bis zu den Bewohnern der Dachgeschosswohnungen. Wenn auch aus oft einander diametral entgegengesetzten Gründen: Manche wollen eben mehr, andere weniger Europa.

Samstag, 13. Februar 2016

Zum Tod von Trifon Iwanow: A walk down the memory lane

Trifon Iwanow ist heute im Alter von gerade einmal 50 Jahre verstorben. Der Bulgare mit dem charakteristischen Bartwuchs steht wie kaum ein anderer für den österreichischen Fußball der Mitt-1990er Jahre, genauer gesagt der damals höchst erfolgreichen Rapid-Mannschaft. Für viele eine prägende Zeit. Mehr als genug Anlass zum Sinnieren.
Kultfigur Iwanow
Trifon Iwanow erlangte im Zuge der WM von 1994 als Mitglied des damals überraschend bis ins Halbfinale avancierten bulgarischen Nationalteams internationale Bekanntheit. Als er bei Rapid Wien anheuerte war er den meisten daher schon ein Begriff, eine Seltenheit bei Neuverpflichtungen österreichischer Fußballvereine (von so manchen abgehalfterten Ex-Stars abgesehen; man erinnere sich an Giuseppe Giannini, Hugo Sanchez oder auch Dejan Savićević). Was freilich daran lag, dass er seine Karrierechancen mit immer wiederkehrenden disziplinären Probleme erheblich einschränkte. Österreich, das war und ist ja nicht unbedingt ein fußballerisches Traumziel.
Iwanow hat sich neben dem kultigen Äußeren – der bereits erwähnte Bartwuchs in Kombination mit seinen bis in den Nacken reichenden Haaren (eine sogenannte Gnackmattn) und dem unverkennbaren Schlafzimmerblick – vor allem mit zwei Aktionen ins kollektive Gedächtnis der nicht mehr ganz so jungen österreichischen Fußballfans eingebrannt. Seine Vorarbeit zum 2:0 gegen Sporting Lissabon im mittlerweile abgeschafften "Cup der Cupsieger"-Bewerb 1995/96 (O-Ton Hans Krankl, damals Co-Kommentator: "der Iwanov als selbsternannte Sturmspitze hat das Tor möglich gemacht" ) und sein aus dem Nichts abgefeuerter Weitschuss im entscheidenden Meisterschaftsspiel gegen Sturm Graz in der gleichen Saison (und das, obwohl er nicht einmal zu einem Tor geführt hat). Rapid erreichte in besagtem Bewerb das Finale und wurde österreichischer Meister.
Die guten alten 90er
In dieser Saison war ich gerade einmal 10 Jahre alt. Das Spiel gegen Sporting Lissabon habe ich vor dem Fernseher erlebt. Die Portugiesen waren eigentlich eine Übermacht und kaum jemand hat gedacht, dass Rapid (noch) weiterkommen würde. Der Erfolg und der dahinterstehende Kämpferwille gilt als eines der Paradebeispiele für den Mythos vom "Rapid-Geist". Beim 2:0 gegen Sturm Graz war ich sogar im Stadion, nach Abpfiff durfte ich als Teil der euphorisierten Masse hinunter zum Spielfeld. Mit dem legendären grünweißen Dress aus der Zeit. Vorne Avanti, hinten die Nummer 7, inklusive Namensaufdruck (Christian Stumpf; weil er so "groß und stark" war), obwohl das damals, soweit ich weiß, noch nicht üblich war. Just an jenem Tag gekauft, an dem Christian Stumpf besagte Vorlage verwertet hat. Ich war vorm Fernseher so stolz, als wäre ich der eigentliche Torschütze. Damals brauchte es nicht viel und schon gar keine eigene Leistung.
Beim Lesen des Tweets von seinem Tod sind diese und andere Erinnerungen wieder hochgekommen. An das rotblaue Oldschool-Rapid-Auswärtsdress. Daran, wie begeisterungsfähig man in diesem Alter doch ist. An Stickeralben, Sportmagazine aller Art und den Katalog vom Fanshop-Strobl. Zu Weihnachten ein Dress (also Trikot, Hose und Stutzen!), zum Geburtstag Fußballschuhe, Schienbeinschoner und Torwarthandschuhe (weil die Dressen doch sehr teuer waren, musste bisweilen eine "Fälschung" vom Naschmarkt ausreichen, für die man sich vor anderen geniert hat).
An Matches in Wiener Parks, wo man ab und an auch Watschen von anderen Kids bekommen hat, die diesen in numerischer Überlegenheit und der Gewissheit des Rückhalts älterer Brüder als ihr Revier betrachteten.
Das allgemeine Faible für Fußballer, die Suche nach Idolen. Meins war beispielsweise Michael Konsel; wie gesagt, ich spielte gern im Tor, wenn auch eher schlecht (erst ab ca. 15 herum konnte ich mich vom "Eiergoalie" zu einem, wie ich mir zumindest einrede, halbwegs passablen Torhüter mausern). Im Zuge der EM 2008 hatte ich die Gelegenheit, kurz mit ihm zu plaudern. Konnte ihm leicht angeheitert und mit einem kleinen Rest kindlicher Nervosität meine damalige Bewunderung gestehen. Zwei, drei irgendwie seltsam anmutende Fotos sind dabei auch entstanden (zum Glück war die Kompaktkamera dabei).
Fußball: Eine gemeinsame Sprache
Fußball, das konnte man heute etwa auf Facebook, in Foren, den Kommentaren unter den Artikeln oder Twitter einmal mehr sehen, verbindet. Man denke nur an die Coca Cola Werbung zur EM 2008. Zwei Männern, die gemeinsam in einem Zugabteil sitzen; auch wenn sie keine gemeinsame Sprache sprechen, kommunizieren sie hervorragend: Durch die simple Erwähnung von großen Fußballern, gefolgt mit einem "ooooh" als Ausdruck der Begeisterung. Ja, so funktioniert das wirklich, selbst erlebt, unabhängig von gemeinsamer Sprache, quer durch Schichten und Kulturen. Egal, ob beim Bundesheer oder Taxifahrten in fern und weniger fern gelegenen Ländern.
Die Nennung von Namen, vorzugsweise aus einer prägenden Zeit, löst bei Fuballfans unweigerlich eine Reihe von Assoziationen aus. Ich muss neben der damaligen Rapidmannschaft (vermutlich, weil eingangs von der WM 1994 die Rede war), etwa an Roberto Baggio und seinen im Finale verschossenen Elfmeter 1994 denken; an mein zweites Torwartidol Oliver Kahn und daran, wie er Andreas Herzog ("unseren" Andi! Die Zehe der Nation!) gewürgt hat, aber auch daran, dass er beim Karlsruher SC im Tor stand, als dieser von der damaligen Austria Salzburg aus dem UEFA-Cup geworfen wurde. Viele andere Namen und damit einhergehende Episoden kommen in den Sinn, drei seien noch genannt. Toni "Rambo" Pfeffer und sein legendäres Interview bei der 0:9-Niederlage gegen Spanien. Andreas Ogris Stirn an Stirn mit Didi Kühbauer. Ivica Vastic, Teil des "magischen Dreiecks" bei Sturm Graz, wahnsinnig guter Techniker, aber Schwalbenkönig. Das Spiel mit der fußballerischen Nostalgie könnte man jetzt ewig so weiterspielen. Der Tod von Trifon Iwanow hat wohl bei so einigen ähnliche Auswirkungen mit sich gebracht: Einen "walk on the memory lane" der 1990er mitsamt den damit verbundenen Mannschaften, Einzelspielern und anderen höchstpersönlichen (Fußball-)Erfahrungen.
Der Tod und die großen Fragen
Bei so manchem hat der frühe Tod von Trifon Iwanow vielleicht auch ein weitergehendes Grübeln ausgelöst. Über die mit so manchem Todesfall wiederkehrenden (für mich persönlich erst vor wenigen Tagen anlässlich des Tods von Roger Willemsen) großen Themen unseres Daseins: Die eigene und allgemeine Vergänglichkeit, der möglicherweise nicht mehr so weit entfernte Tod naher Verwandter; daran, dass man vielleicht mal wieder die eigenen Großeltern besuchen oder wenigstens öfter anrufen sollte (Selbiges gilt mitunter auch für die Eltern). Die mit fortschreitendem Alter immer schneller vergehende Zeit. Das große "was kommt danach", ob es ein solches überhaupt gibt und wenn ja, wie es aussieht. Oder auch, wie man seine Zeit verbringen möchte beziehungsweise sollte: Das gute Leben, das schon Aristoteles untersucht und beschrieben hat. Von der Frage aller Fragen, also dem Sinn des Lebens, ganz zu schweigen (zur Not bleibt das allgemein bekannte 42).
Es gibt natürlich keine allgemein gültigen und in jedem Falle zufriedenstellenden Antworten. Gerade deshalb tragen wir diese Fragen ja auch ein Leben lang mit uns herum, wobei sie sich tendenziell nur bei konkreten Anlässen stellen (dann dafür umso drängender). Eben beispielsweise dann, wenn ein Fußballer stirbt. Zumindest so lange, bis die nächste Ablenkung kommt. Und die gibt es ja gerade heute in Hülle und Fülle. Morgen findet zum Beispiel das nächste Wiener Derby statt.

Donnerstag, 11. Februar 2016

Der Lugner-Effekt

Richard Lugner, Baumeister der Nation, tritt also zur Bundespräsidentschaftswahl an. Die Häme hat ja bereits vor längerem eingesetzt und wird nun wohl weiter zunehmen – die heutige Pressekonferenz mitsamt den dazugehörigen Tweets war ein erster Vorgeschmack. Der Bundespräsident, das ist in Österreich schließlich ein (nahezu ausschließlich) repräsentatives Amt, eine Art Ersatz-Kaiser – freilich ohne dessen weitreichenden realpolitischen und juristischen Kompetenzen. Fix ist dennoch: Damit kommt mehr Bewegung in die Sache.
Richartd Lugner weist freilich Parallelen zu Frank Stronach oder gar Donald Trump auf. Erfolgreiche Unternehmer im fortgeschrittenen Alter (erstere beide bereits jenseits der 80), die eigenwillig denken und viel Angriffsfläche bieten. Man riecht förmlich, wie lustige und halblustige Journalisten, Komödianten und wer auch immer sich auf deren Kosten gerne amüsiert, nach peinlichen Auftritten gieren. Dazu kommt ihr Faible fürs weibliche Geschlecht, das sie in einer Weise öffentlich inszenieren, die geschlechtersensibilisierten Menschen als Relikt aus Zeiten erscheint, die man überwunden sehen möchte.
Man kann an diesen Männern jedoch ungeachtet der zahlreichen berechtigten und teilweise auch überzogenen Kritikpunkte auch etwas anderes sehen. Immerhin sind sie authentisch. Sie scheinen auf Coaching großteils, wenn nicht zur Gänze, zu verzichten. Vielmehr reden sie einfach „wie ihnen der Mund gewachsen ist“, also ohne Rücksicht auf Verluste, Shitstorm und dergleichen. Was freilich insbesondere im Falle Trumps hochproblematisch ist, da er wesentlich mehr Erfolg und Reichweite als seine österreichischen Pendants hat und seine ungleich radikaleren Aussagen im Zusammenhang mit der wesentlich bedeutsameren US-Präsidentschaftswahl tätigt.
Aber dieser Zugang hat zumindest irgendwo auch etwas Erfrischendes. Keine leeren Worthülsen, kein langes Zuwarten, um ja nichts Falsches zu sagen, keine Versuche, Dinge zu sagen, von denen man glaubt, dass sie im Moment gut ankommen. Kurzum: All das, was an der modernen Politik bisweilen anstrengend ist oder gar nervt. Auch Armin Wolf verdankt seinen Erfolg dem simplen Faktum, dass er standardisierte Ausweich-Antworten oft genug einfach nicht zulässt, sondern nachhakt. Schließlich hat man insbesondere bei den „Elefantenrunden“ und anderen TV-Großauftritten nicht mehr das Gefühl, einen ganz normalen Menschen vor sich zu haben, sondern das aalglatte Endprodukt zahlreicher Briefings und Rhetorikschulen. Wo Österreich freilich noch nicht so weit ist wie die USA. Hier gibt es letzten Endes doch noch Politiker, die – mag man von ihnen halten, was man will – „kernig“ bis „urig“ wirken („man bringe den Spritzwein!“). Langfristig wird es jedoch wohl zu einer weiteren Zunahme des Coaching-Wahns und der dazugehörigen Entfremdung der Person des Berufspolitikers kommen.
Hier liegt der zweite durchaus positive Aspekt an diesen alten Männern. Sie sind „Quereinsteiger“, die sich ihre Sporen fernab der Politik verdient haben. Denen das soziale Feld der Politik fremd ist. Auch deshalb wirken sie ungeachtet ihres Wohlstands bisweilen wesentlich volksnäher – was sie ja auch gerne betonen – als die Damen und Herren aus den Reihen der Spitzenpolitik, die oftmals wenig bis keine Erfahrungen in der „Privatwirtschaft“ gesammelt haben. Das Durchlaufen der parteilichen Tretmühle führt unweigerlich auch dazu, dass man in einer eigenen Welt – man kann es eine „Politikerbubble“ nennen – lebt. Viele dürften im Alltag wenig bis gar nichts mit 0815-Bürgern, insbesondere der "Unterschicht" zu tun haben (zumindest wirkt es so). Hier liegt ein wesentlicher Unterschied: Auch wenn ich Richard Lugner nicht persönlich kenne – wenn ich mit ihm plaudern will, brauche ich nur ab und an in die Lugnercity zu gehen. Für ein Plauscher’l ist er angeblich immer zu haben.

Montag, 8. Februar 2016

Roger Willemsen – ein Nachruf

Roger Willemsen ist tot. Jeden berühren ja andere Todesfälle von Menschen, bei denen man irgendwie das Gefühl hatte, sie zu kennen ohne sie zu kennen. Weil der Mensch einen mit seinem künstlerischen Werk, sei es musikalisch, schriftstellerisch oder sonstwie, berührt hat etwa. Erinnert sich an einen ganz bestimmten Moment – einen von denen, die das Leben eben ausmachen, von denen man glaubt, dass man sich an sie erinnert, wenn es mit einem selbst zu Ende geht – eine Lebensphase, in der das Werk eine Rolle gespielt hat; Musik als Teil des ganz persönlichen (Lebens-)Soundtracks oder ein Buch im Rucksack als steter Begleiter bei der Art von Reisen, wie man sie nur in jungen Jahren unternehmen kann.
Roger Willemsen, genauer gesagt sein Buch "Der Knacks" war so etwas für mich. Es beginnt mit dem Tod seines Vaters und darum, wie der Tod damit sein Leben schon früh geprägt hat. Eben alles irgendwie anders geworden ist. Um darauf aufbauend weitere, freilich nicht-empirische Thesen zu diesen Knackpunkten des Lebens, diesen Momenten und Phasen, die alles verändern, auszuformulieren. Schöne Gedanken, ohne Struktur, die ohnehin gestört hätte. Die Lektüre ist zu lange her, um sich an Details zu erinnern; aber der Eindruck ist immer noch da. Oft genug entscheidet letztlich ohnehin das, was man selbst aus einem Buch macht und was davon bleibt.
Das Buch selbst befindet sich nicht mehr in meinem Buchregal. Entweder verborgt – da weiß man wieder, wieso man Bücher nur ungern herborgt – oder jemandem geschenkt, mitunter in einer schwierigen Situation. Ist auch nicht so wichtig. Es ist die Art von Buch, die man jemandem schenkt, der gerade in einer Umbruchphase – das meint Willemsen ja mit "Knacks" – steckt. Und Bücher, das kann man bei Viktor Frankl sehr schön lesen, sind ja ein hervorragendes Therapeutikum.
Amazon sei Dank kann man Bücher über die Vorschaufunktion ja teilweise vorab begutachten; und die entscheidende Passage ist verfügbar. Sehr eigentümlich, diese Zeilen jetzt zu lesen. Ein wenig bekommt man den Eindruck, als hätte Willemsen diese Zeilen auch für sich geschrieben – schließlich ist auch er einem Krebsleiden erlegen:

Denn so viel wusste ich sofort: Sterben würde mein Vater, an Krebs sterben, trotz aller Bestrahlungen und günstig klingenden Befunde, sterben an etwas, das unter dem von den Strahlungen rot gewordenen Fleck auf seiner oberen Rückenpartie saß – eine Stelle wie ein mittelschwerer Sonnenbrand. Diese raue Stelle war das einzig Äußerliche, das uns die Krankheit zu sehen gab. Nein, es war ja nicht einmal die Krankheit, die sich zeigte, es war der ärztliche Versuch einer Therapie, die auf Strahlen, Verbrennungen, Verätzungen, auf Ausmerzungsprozesse im Innern des Vaterleibes setzte. Wir alle haben diese Stelle manchmal eingecremt, die einzige Spur der Krankheit berührt, eine Rötung bloß, eine Bagatelle.
Doch der Knacks? Nicht das Wort »Krebs« löste ihn aus, nicht der Kochlöffel, nicht das Bild des Vaters im Krankenhausbett und auch nicht der Blick aus seinen Augen, als er sich, schon von Morphium benebelt, im Kissen aufrichtete, auf mich zeigte und fragte: » Wer ist das?«Auch die Nachricht von seinem Tod an jenem Augustnachmnittag war nicht der Knacks. Dies alles waren Schocks, Detonationen, Implosionen. Der Knacks war das weiße Huhn, das wiedergefundene Unwiederbringliche.Die Trauer ist das eine. Das andere ist der Eintritt in eine Sphäre des Verlusts. Anders gesagt: Der Verlust ist das eine, das andere aber ist, ihn dauern zu sehen und zu wissen, wie er überdauern wird: Nicht im Medium des Schmerzes und nicht als Klage, nicht einmal expressiv, sondern sachlich, als graduelle Verschiebung der Erlebnisintensität.Man könnte auch sagen: Etwas Relatives tritt ein. Was kommt, misst sich an diesem Erleben und geht gleichfalls durch den Knacks. Es ist der negative Konjunktiv: Etwas ist schön, wäre da nicht ... Es tritt ein Moment ein, in dein alles auch das eigene Gegenteil ist. Als kämen, auf die Spitze getrieben, die Dinge unmittelbar aus dem Tod und müssten sich im Leben erst behaupten und bewähren.
Todesfälle regen oft genug unvermeidlich zum Nachdenken an; was sie auch tun sollen.  Sie rücken Dinge in Perspektive und werfen die gute alte Frage nach dem auf, worauf es im Leben wirklich ankommt. Darauf, dass vieles, das einen für den Moment intensiv beschäftigt oder gar mitnimmt, auf die Lebensspanne gesehen von lediglich verschwindend geringer Bedeutung ist. Dann denken wir zumindest kurz über die großen, oft banal daherkommenden Themen nach. Der berühmte Psychologe Irvin Yalom erzählt dementsprechend gerne davon, dass er seine Klienten in der ersten Sitzung dazu auffordert, auf einer Lebenslinie einzuzeichnen, wo sie sich gerade befinden. Um ihnen die Binsenweisheit, die wir dennoch wieder und wieder vergessen, klarzumachen: Heute, jetzt gerade beginnt der Rest deines Lebens.
Und ganz allgemein scheint uns der Gedanke an das eigene Ableben paradoxerweise glücklich machen zu können: Lässt er uns doch der eigenen Vergänglichkeit gewahr werden. Gibt Anlass, existenzielle, langfristige Ziele mit kurzfristigen Begierden abzustimmen. Und wirft die essentielle Grundfrage auf, ob wir unsere beschränkte Lebenszeit sinnvoll einsetzen, was freilich gegebenenfalls zum gebotenen Umdenken anregen kann – wofür es, und auch das klingt pathetisch (aber das liegt einfach am Thema) nie zu spät ist.


Donnerstag, 4. Februar 2016

wenn die Wirte sterben

Unternehmer im Allgemeinen und Gastronomen/Wirte im Besonderen werden in Österreich bekanntlich seit je her und mittlerweile wohl mehr denn je schikaniert. Stichwort "Registrierkassa" (was zB fürs Schweizerhaus einfach nur wahnwitzig ist in der Umsetzung).
Das Traurige daran: Es ist schon länger so, wie man selbst beim Besuch des wirklich empfehlenswerten "Dritte Mann"-Museums sehen kann. Dort hängt, klein und leicht übersehbar, ein Ausschnitt von einem kurzen Bericht zur Schließung des von Anton Karas, der Musiker hinter der unverkennbaren Filmmusik, betriebenen Heurigen ("The Karas zither is silent"): "because taxation is killing me"

Montag, 1. Februar 2016

Obergrenzen und Außenpolitik

Asyl-Obergrenzen werden derzeit intensiver debattiert denn je. Vieles ist ungeklärt: Wie lässt sich das mit der gegebenen Rechtslage vereinbaren (die Genfer Flüchtlingskonvention sieht keine Obergrenzen vor) durchführen, kann man überhaupt effektiv und ohne Anwendung von Waffengewalt Menschen vom Einreisen abhalten, würde es gerade in Österreich ohnehin nicht funktionieren (Stichwort Schludrian). Die Gretchenfrage dürfte indes darin bestehen, ob es eine solche überhaupt gibt und ab wann sie erreicht ist.
Aus der Vielzahl der Meinungen, die es zu diesem Thema gibt, sticht Paul Collier hervor. Er hat mit "Exodus" eines der bedeutendsten Bücher zum Thema Einwanderung geschrieben. Grundsätzlich beschreibt er darin dafür, zwischen den Interessen des Ziellandes und der Notwendigkeit, Asyl zu gewähren beziehungsweise Migration zuzulassen, entsprechend abzuwägen – kurzum, Migration zu steuern, weil sonst am Ende niemand etwas davon hat. Ab einer gewissen Anzahl scheitert die Integration. Er sieht dabei nicht die ökonomischen Folgen von Migration (also die zuletzt von Hans-Werner Sinn angestoßene Debatte, ob Zuwanderung im Allgemeinen ein Minusgeschäft darstellt), sondern die sozialen Folgen als entscheidend an. Kulturelle Diversität birgt enorm viel kreatives Potenzial und somit Raum für Innovation. Ab einer gewissen Anzahlgeraten Gesellschaften jedoch in eine Schieflage und die Stimmung droth zu kippen weil
"das gegenseitige Vertrauen innerhalb einer Gesellschaft tendentiell sinkt, wenn die Verschiedenheit durch Einwanderung zunimmt. Für die modernen und reichen Gesellschaften ist das deshalb von Bedeutung, weil wir unzählige, sehr komplexe Institutionen haben, die auf gegenseitigem Vertrauen und Kooperation aufbauen, etwa in unseren Sozialsystemen. Wenn eine Gesellschaft zu verschieden zusammengesetzt ist, wird es schwieriger, die Kooperation in solchen Systemen zu organisieren. Das ist in der Forschung nicht kontrovers, sondern Standard."
Eine vernünftige, die Erkenntnisse Colliers einbeziehende Debatte rund um die Aufnahmekapazitäten und -bereitschaft der beliebtesten Zielländer scheitert nach wie vor an der Vermischung von Zuwanderung und Asyl. Daher reden jene, die betonen, dass Menschlichkeit keine Grenzen kenne und jene, die auf die die Grenzen des Schaffbaren verweisen, in der Regel aneinander vorbei. Wie man diese beiden Bereiche effektiv voneinander trennen möchte, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Völlige Abschottung gilt als kalt, unbegrenzte Zuwanderung auf dem Asylweg als unrealistisch. Selbst die linke Ikone Slavoj Zizek findet äußerst harte Worte für letztere Position:
"Die größten Heuchler sind zweifellos diejenigen, die offene Grenzen propagieren: Insgeheim wissen sie, dass es dazu nie kommen wird, weil eine populistische Revolte in Europa die Folge wäre. Sie spielen die schöne Seele, die sich über die verdorbene Welt erhaben fühlt, aber heimlich gern mit dabei ist. Auch die populistischen Einwanderungsgegner wissen ganz genau, dass es den Afrikanern, wenn man sie sich selbst überlässt, nicht gelingen wird, ihre Gesellschaften zu ändern. Warum nicht? Weil wir Westeuropäer sie daran hindern. Es war die europäische Intervention in Libyen, die das Land ins Chaos stürzte. Es war der US-amerikanische Angriff auf den Irak, der die Bedingungen für den Aufstieg des IS schuf. Der anhaltende Bürgerkrieg in der Zentralafrikanischen Republik zwischen dem christlichen Süden und dem muslimischen Norden ist nicht einfach nur ein Ausbruch ethnischen Hasses, er wurde durch die Entdeckung von Ölvorkommen im Norden ausgelöst: Frankreich (mit den Muslimen verbunden) und China (mit den Christen verbunden) kämpfen mithilfe ihrer Stellvertreter um die Kontrolle über das Öl."
Damit spricht er einen wichtigen, mitunter den entscheinden Punkt an: Militärische und sonstige Interventionen, die Verfolgung wirtschaftlicher Interessen im Ausland oder fragwürdige Pläne, die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern (so zerstört die EU-Subventions- und Handelspolitik im Agrarbereich seit je her die afrikanischen Märkte beziehungsweise lässt sie sie gar erst nicht entstehen) haben massive Folgen, die nun an die Pforte der wohlhabenderen europäischen Staaten klopfen. Europa und "der Westen" ist gewiss nicht alleine schuld, hat aber einen entscheidenden Anteil.
Es gilt, Probleme zu identifizieren und zu bennen, sich dabei auch von tradierten Weisheiten zu verabschieden. Der Flüchtlings- und Migrationsstrom erfordert ein fundamentales außenpolitisches Umdenken. Was konkret getan werden muss, steht freilich auf einem anderen Blatt. Um hier Lösungen zu finden, muss man sich zuerst des Problems bewusst werden.

Freitag, 29. Januar 2016

Wovor man sich früher gefürchtet hat: Vor Atombomben etwa

aber keine Sorge, mit einem Bunker, 1m80 unter der Erde, zwischen Hügeln oder in einer Stadt mit weniger als 50 000 Einwohnern war man relativ sicher (aus dem Spiegel, ~ 1950)


Dienstag, 26. Januar 2016

Hannah Arendt on the relationship between shame, being overlooked, and revolution

the predicament of the poor after their self-preservation has been assured is that their lives are without consequence, and that they remain excluded from the light of the public realm where excellence can shine; they stand in darkness wherever they go. 
As John Adams saw it: 'The poor man's conscience is clear; yet he is ashamed ... He feels himself out of the sight of others, groping in the dark. Mankind takes no notice of him. He rambles and wanders unheeded. In the midst of a crowd, at church, in the market. he is in as much obscurity as he would be in a garret or a cellar. He is not disapproved, censured, or reproached; he is only not seen ... To be wholly overlooked, and to know it, are intolerable. If Crusoe on his island had the library of Alexandria, and a certainty that he should never again see the face of man, would he ever open a volume?'
I have quoted these words at some length because the feeling of injustice they express, the conviction that darkness rather than want is the curse of poverty, is extremely rare in the literature of the modern age, although one may suspect that Marx's effort to rewrite history in terms of class struggle was partially at least inspired by the desire to rehabilitate posthumously those to whose injured lives history had added the insult of oblivion. Obviously, it was the absence of misery which enabled John Adams to discover the political predicament of the poor, but his insight into the crippling consequences of obscurity, in contrast to the more obvious ruin which want brought to human life, could hardly be shared by the poor themselves; and since it remained a privileged knowledge it had hardly any influence upon the history of revolutions or the evolutionary tradition.
When, in America and elsewhere, the poor became wealthy, they did not become men of leisure whose actions were prompted by a desire to excel, but succumbed to the boredom of vacant time, and while they too developed. a taste for 'consideration and congratulation', they were content to get these 'goods' as cheaply as possible, that is, they eliminated the passion for distinction and excellence that can exert itself only in the broad daylight of the public. The end of government remained for them self-preservation, and John Adams' conviction that 'it is a principal end of government to regulate [the passion for distinction]' has not even become a matter of controversy, it is simply forgotten. Instead of entering the market-place, where excellence can shine, they preferred, as it were, to throw open their private houses in 'conspicuous consumption', to display their wealth and to show what, by its very nature, is not fit to be seen by all.
Hannah Arendt, On Revolution (Penguin Books 1963/1990), 69f.

... the institution of slavery carries an obscurity even blacker than the obscurity of poverty; the slave, not the poor man, was 'wholly overlooked'.
Ibid, 71

Montag, 25. Januar 2016

Obergrenzen: Politische Taktik

Jetzt sind sie also da, die Obergrenzen und mit ihnen unzählige Diskussionen hinsichtlich der Durchführbarkeit, der Rechtslage, den außenpolitischen Folgen und letztlich auch der innenpolitischen Auswirkungen.
Zahlreiche Kommentatoren kritisieren die Regierungsparteien hier für ihre Anbiederung an den rechten Rand. Letztlich, so heißt es, würden sie damit der FPÖ in die Hände spielen beziehungsweise dieser Zugeständnisse machen. Man könnte gar so weit gehen zu sagen, dass sich vor allem die SPÖ damit ein Eigentor schießt – gemäß dem Motto "geh' gleich zum Schmied, nicht zum Schmiedl": Wer FPÖ-Politik will, wählt die FPÖ und nicht eine der beiden Regierungsparteien. Gleichzeitig wird vor allem die SPÖ damit für viele immer mehr unwählbar.
Diese These ist durchaus berechtigt, sie muss aber nicht unbedingt gelten. Die beiden Regierungsparteien sehen sich seit geraumer Zeit mit einer Krise konfrontiert, für die es keine nationalstaatliche, also "österreichische" Lösung zu geben scheint. Auch auf EU-Ebene passiert wenig bis gar nichts. Daher ist es einmal mehr Zeit für Symbolpolitik (um nichts anderes handelt es sich bei den Obergrenzen, jedenfalls im Moment, also solange die anderen EU-Mitglieder nicht entsprechend nachziehen). So gesehen sollte der Obergrenze-Beschluss alstaktisches Manöver verstanden werden.
Die FPÖ leidet schließlich seit der Haider-Ära unter einer gläsernen Decke. Sie kommt einfach nicht über einen gewissen Prozentsatz hinaus. Es gibt einen signifikanten Bevölkerungsanteil der aller Unzufriedenheit und aller Kritik an den Großparteien zum Trotz niemals blau wählen würde. Aufgrund der Zuspitzung der Flüchtlingskrise und den bisherigen Fehlleistungen in dieser Frage besteht bei der Regierung eventuell Bedenken, dass der Anteil dieser Leute jedoch absinken könnte. Also selbst vehemente FPÖ-Kritiker sie aus wahltaktischen oder aus simplen Protestgründen doch wählen könnten. Die Flüchtlingskrise und die weit verbreiteten Sorgen in der Bevölkerung die FPÖ weg vom rechten Eck immer mehr in die Mitte der Gesellschaft manövrieren – wo sie ja auch schon seit geraumer Zeit hinmöchte (letztes Beispiel dafür ist die Annäherung an die Alternative für Deutschland).
Die Obergrenzen sind im Lichte eines derartigen Szenarios zu sehen. Die beiden Großparteien wollen damit der FPÖ Wind aus den Segeln nehmen. Ein Signal an jene Wähler aussenden, die der FPÖ grundsätzlich äußerst negativ gegenüberstehen aber aufgrund des bisherigen Umgangs mit der Flüchtlingskrise ernsthaft mit dem Gedanken spielen, über ihren Schatten zu springen. Es wird sich weisen, ob diese Taktik aufgeht oder man damit unterm Strich mehr Leute vergrault.

Samstag, 23. Januar 2016

on the right to Asylum in international law

Amidst Austria's decision to impose an cap on the number of applications for asylum, the Europe's refugee crisis is increasingly turning towards the relevant legal aspects. Some already go as far as already claiming that Austria will certainly violate its obligation under international law. Things are, as always when it comes to legal debates in general and international law in particular, a bit less clear. What can already be said at this point is that no such thing as a general right to asylum exists under international law. See, eg, the article on this subject in the Max Planck Encyclopedia of International Law:

"Attempts to establish an individual right to be granted asylum on a universal level have largely failed. Neither the European Convention of Human Rights, nor the universally applicable human rights treaties, like the UN Covenant on Civil and Political Rights of 16 December 1996 or the UN Convention Against Torture of 10 December 1984 contain an individual right of asylum ... there is no established right to asylum"
What does exist, however, is a prohibition to send someone back to "the frontiers of territories where his life or freedom would be threatened on account of his race, religion, nationality, membership of a particular social group or political opinion." (Article 33 1951 Refugee Convention"), commonly non as "non-refoulement". 
It can be argued (see, e.g. James C Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, Cambridge University Press 2005, p. 301) that this provision obliges State parties to the Refugee Convention to determine whether a person qualifies as a refugee and, if he or she does, has a right to stay in the country.

[...] where there is a real risk that rejection will expose the refugee ‘‘in any manner whatsoever’’ to the risk of being persecuted for a Convention ground, Art. 33 amounts to a de facto duty to admit the refugee, since admission is normally the only means of avoiding the alternative, impermissible consequence of exposure to risk.
This duty primarily affects neighbouring states of the state where persecution is to be expected. Austria could thus still deny entry to people arriving from basically safe countries.

An often ignored provision on non-refoulment is Article 33 paragraph 2 of the 1951 Refugee Convention which reads as follows:
"2. The benefit of the present provision may not, however, be claimed by a refugee whom there are reasonable grounds for regarding as a danger to the security of the country in which he is, or who, having been convicted by a final judgement of a particularly serious crime, constitutes a danger to the community of that country."
Member States of the European Convention on Human Rights (ECHR), however, are prevented from deporting someone falling under paragraph 2 since the European Court of Human Rights has set a high standard on the principle of non-refoulement. This obligation goes back to the 1989 Soering case (where the court ruled that extraditing someone to the US where he would spend time on death row would violate Article 3 of the European Convention on Human Rights):
in the Court’s view, having regard to the very long period of time spent on death row in such extreme conditions, with the ever present and mounting anguish of awaiting execution of the death penalty, and to the personal circumstances of the applicant, especially his age and mental state at the time of the offence, the applicant’s extradition to the United States would expose him to a real risk of treatment going beyond the threshold set by Article 3 (art. 3). A further consideration of relevance is that in the particular instance the legitimate purpose of extradition could be achieved by another means which would not involve suffering of such exceptional intensity or duration. Accordingly, the Secretary of State’s decision to extradite the applicant to the United States would, if implemented, give rise to a breach of Article 3 (art. 3).
These determinations are also valid in connection with the deportation of asylum seekers/refugees. Austria itself was party to a case concerning the extradition of an individual to Somalia and the possibility that this could amount to a breach of article 3 ECHR already in 1994. In Ahmed versus Austria, the European Court of Human Rights ruled as follows:

  • 35.   The applicant alleged that, if he were to be deported to Somalia, he would certainly be subjected there to treatment prohibited by Article 3 of the Convention (art. 3), which provides:
  • "No one shall be subjected to torture or to inhuman or degrading treatment or punishment."
  • By granting him refugee status on 15 May 1992 the Austrian authorities had, he submitted, recognised the existence of that risk. According to the latest news, the situation in Somalia had not fundamentally changed since then. The country was still the theatre of a fratricidal war between rival clans. He himself was still suspected of belonging to one of these, the USC, and on that account was still at risk of persecution in Somalia. Only his criminal conviction had made him lose his refugee status; however, the alleged seriousness of the offence a person had committed was not sufficient to justify placing his life in danger.
  • 36.   The Commission accepted the above argument in substance. It noted in particular that in support of their decision to strip the applicant of his refugee status the national authorities had not mentioned any new factor tending to show that the risk he would run in Somalia had disappeared.
  • 37.   The Government too considered that Mr Ahmed was at risk of being subjected in Somalia to treatment incompatible with Article 3 (art. 3). However, they submitted that they had complied with the requirements of that provision (art. 3) to the extent that Austrian legislation permitted. As the deportation order had become final, it could no longer be deferred. That meant that, as Austrian law stood, the stay of execution of the measure against the applicant was the only means whereby he could lawfully remain in Austrian territory. Moreover, by submitting an application under section 36 (2) of the Aliens Act (see paragraph 27 above), Mr Ahmed would be entitled to have the stay extended for as long as the danger in Somalia persisted. If that application were rejected, he could still apply to the Constitutional Court and the Administrative Court.
  • 38.   The Court reiterates in the first place that Contracting States have the right, as a matter of well-established international law and subject to their treaty obligations including the Convention, to control the entry, residence and expulsion of aliens. It also notes that the right to political asylum is not contained in either the Convention or its Protocols (see the Vilvarajah and Others v. the United Kingdom judgment of 30 October 1991, Series A no. 215, p. 34, para. 102).
  • 39.   However, the expulsion of an alien by a Contracting State may give rise to an issue under Article 3 (art. 3), and hence engage the responsibility of that State under the Convention, where substantial grounds have been shown for believing that the person in question, if expelled, would face a real risk of being subjected to treatment contrary to Article 3 (art. 3) in the receiving country. In these circumstances, Article 3 (art. 3) implies the obligation not to expel the person in question to that country (see the Soering v. the United Kingdom judgment of 7 July 1989, Series A no. 161, p. 35, paras. 90-91; the Cruz Varas and Others v. Sweden judgment of 20 March 1991, Series A no. 201, p. 28, paras. 69-70; the above-mentioned Vilvarajah and Others judgment, p. 34, para. 103; and the Chahal v. the United Kingdom judgment of 15 November 1996, Reports of Judgments and Decisions 1996-V, p. 1853, paras. 73-74).
  • 40.   The Court further reiterates that Article 3 (art. 3), which enshrines one of the fundamental values of democratic societies (see the above-mentioned Soering judgment, p. 34, para. 88), prohibits in absolute terms torture or inhuman or degrading treatment or punishment, irrespective of the victim’s conduct. Unlike most of the substantive clauses of the Convention and of Protocols Nos. 1 and 4 (P1, P4), Article 3 (art. 3) makes no provision for exceptions and no derogation from it is permissible under Article 15 (art. 15) even in the event of a public emergency threatening the life of the nation (see the Ireland v. the United Kingdom judgment of 18 January 1978, Series A no. 25, p. 65, para. 163; the Tomasi v. France judgment of 27 August 1992, Series A no. 241-A, p. 42, para. 115; and the above‑mentioned Chahal judgment, p. 1855, para. 79).
  • 41.   The above principle is equally valid when issues under Article 3 (art. 3) arise in expulsion cases. Accordingly, the activities of the individual in question, however undesirable or dangerous, cannot be a material consideration. The protection afforded by Article 3 (art. 3) is thus wider than that provided by Article 33 of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees (see paragraph 24 above and the above-mentioned Chahal judgment, p. 1855, para. 80).
  • 42.   Like the Commission, the Court attaches particular weight to the fact that on 15 May 1992 the Austrian Minister of the Interior granted the applicant refugee status within the meaning of the Geneva Convention (see paragraphs 11 and 24 above), finding credible his allegations that his activities in an opposition group and the general situation in Somalia gave grounds to fear that, if he returned there, he would be subjected to persecution (see paragraph 11 above). Although the applicant lost his refugee status two years later, this was solely due to his criminal conviction; the consequences of expulsion for the applicant were not taken into account (see paragraph 12 above).
  • 43.   However, in order to assess the risks in the case of an expulsion that has not yet taken place, the material point in time must be that of the Court’s consideration of the case. Although the historical position is of interest in so far as it may shed light on the current situation and its likely evolution, it is the present conditions which are decisive (see the above-mentioned Chahal judgment, p. 1856, para. 86).
  • 44.   With regard to the present situation in Somalia, the Court bases its assessment on the findings of the Commission, to which, under the Convention, the tasks of establishing and verifying the facts are primarily assigned (see, inter alia, the above-mentioned Cruz Varas and Others judgment, p. 29, para. 74). In its report of 5 July 1995 the Commission noted that the situation in Somalia had changed hardly at all since 1992. The country was still in a state of civil war and fighting was going on between a number of clans vying with each other for control of the country. There was no indication that the dangers to which the applicant would have been exposed in 1992 had ceased to exist or that any public authority would be able to protect him.
  • 45.   Before the Court the Government did not contest the applicant’s submission that there was no observable improvement of the situation in his country. On the contrary, they explained that the Austrian authorities had decided to stay execution of the expulsion in issue because they too considered that, as matters stood, Mr Ahmed could not return to Somalia without being exposed to the risk of treatment contrary to Article 3 (art. 3).
  • 46.   That being the case, the Court reaches the same conclusion, which moreover is not contradicted by any material in the file or the information supplied by those who appeared at the hearing; nor, in view of the absolute nature of Article 3 (art. 3), is that conclusion invalidated by the applicant’s criminal conviction or the current lack of State authority in Somalia.
  • 47.   It follows that the applicant’s deportation to Somalia would breach Article 3 of the Convention (art. 3) for as long as he faces a serious risk of being subjected there to torture or inhuman or degrading treatment.
To conclude: Sending people back to countries like Syria, Afghanistan, or Somalia, while arguably in conformity with the 1951 Refugees Convention, would most likely violate the European Convention of Human Rights. In other words: even if the state authorities conclude that someone from these and countries with a similarly high risk of being exposed to inhumane or degrading treatment or torture is not granted refugee status, he can nevertheless not be sent back. In other words: While there is no general right to asylum in international law, there is a far-reaching prohibition to be sent back to a country where the affected person "faces a serious risk of being subjected there to torture or inhuman or degrading treatment." 

Samstag, 16. Januar 2016

"Wir schaffen das" – was bedeutet das eigentlich?

"Wir schaffen das" meinen die einen, "wir schaffen das nicht", die anderen. Angela Merkels berühmter Sager hat das Jahr 2014 geprägt wie kein anderer. Doch was meinte sie damit eigentlich und was dürfen wir darunter verstehen? Wer sind "wir" überhaupt?
Politische Kommunikation ist per se nicht analytisch. Schließlich geht es darum, Souveränität zu vermitteln oder eine Leitlinie vorzugeben. Daher muss, ja kann sie Situationen nicht präzise erfassen, nicht allzu sehr ins Detail gehen. Daraus folgen auch die doch irgendwie altbekannt klingenden politischen Wortformeln mitsamt dem Ausweichen auf unangenehme oder allzu weitgehende Fragen. 
Wie lassen sich Aussagen wie jene von Angela näher einordnen? Abgesehen von den politischen Hintergründen lassen sich grob gesagt vier Szenarien (zwei positiv, zwei negativ) skizzieren, wann man die Flüchtlingskrise jedenfalls "geschafft" hätte oder eben nicht.
1.) Der Idealfall:
Im Idealfall werden die meisten Asylwerber erfolgreich und langfristig in den Arbeitsmarkt integriert; teils weiter ausgebildet (Stichwort Facharbeitermangel), teils unter Einbeziehung ihrer vorhandenen Qualifikationen, teils im Niedriglohnsektor. Das Sozialsystem mitsamt den maroden Pensionssystemen profitiert im Großen und Ganzen.
Auch die gesellschaftliche Integration mitsamt Familiennachzug klappt. Religion bleibt Privatsache, ohne dass allzu weitgehende Forderungen erhoben werden. Im Laufe der Zeit sind darüber hinaus die Verlockungen des Westens zu stark und viele werden nach und nach immer mehr zu dem, was man hierzulande gerne als "Taufschein-Christen" bezeichnet oder legen ihre Religion gar komplett ab. Die Kriminalitätsrate bleibt unverändert oder sinkt.
2.) Ende der Kriege und Krisen
Die vielen Fragen, die uns heute beschäftigen, würden sich mitunter nicht stellen, wenn es zu einem möglichst baldigen Ende der gegenwärtigen Krisen kommt, allen voran des Konflikts in Syrien, aber auch eine noch weitergehende Stabilisierung Afghanistans. Mit den jeweiligen Regierungen werden Rücknahme-Abkommen geschlossen, zumal sie vor allem auf die nach Europa gelangten gut ausgebildeten Menschen dringend angewiesen sind. Europa war somit nur temporärer Zufluchtsort, hat entsprechende Versorgung gewährleistet und kann auf die Dankbarkeit der Betroffenen bauen, eventuell wurden lange bestehende soziale Bande oder auch wirtschaftliche Beziehungen geknüpft.
3.) Der steinige Weg
Der Erfolg verläuft höchst unterschiedlich. Es gibt Erfolgsmeldungen, aber unterm Strich finden viele der jungen Menschen aufgrund mangelhafter Qualifikation, kultureller Differenzen, Sprachbarrieren und falscher Erwartungen keine Arbeit. Aus denselben Gründen greifen auch Ausbildungsprogramme nicht, zumal die Verwaltung überfordert ist. Aufgrund der hohen Anzahl von Neuankömmlingen in Kombination mit der fehlerhaften Aufteilung in möglichst kleine Einheiten besteht nur ein geringer Integrationsdruck und es bilden sich Parallelgesellschaften.
Der Sozialstaat wird unterm Strich zusätzlich belastet, die Standards bei der Gesundheitsversorgung sinken weiter ab, es kommt zu starken Einschnitten bei den Pensionen. Im Extremfall kollabiert er so weit, dass die europäischen Wohlfahrtsstaaten sich dem US-amerikanischen Modell annähern, wobei sie ihre bestehende Steuerlast, Innovationsfeindlichkeit und die überbordenden Auflagen beibehalten – das schlechteste aus beiden Welten also.
Abgesehen von der wirtschaftlichen Entwicklung und ihren Auswirkungen steigt in diesem Szenario die Kriminalitätsrate, der Alltag wird rauer: Private Waffenkäufe nehmen zu, es kommt zur Gründung von Bürgerwehre und gated communities, viele Gebiete entgleiten der Staatsmacht, no go areas kommen auf. Gewaltsame Ausschreitungen wie jene in den Parister oder Stochholmer oder Großbritannien 2011 werden zur Tagesordnungen.
4.) Krieg
Das absolute Horrorszenario wäre eine weitere Verschlechterung des soeben dargestellten Szenarios. Die allgemeine Unzufriedenheit und Frustration mündet in verstärkten Gruppenbildungen mitsamt politischen Parteien, denen es weniger um Problemlösungen als darum geht, "ihre Leute", zu Lasten "der anderen" zu bevorteilen. Das Zusammenleben wird immer heikler, es verlaufen unterschiedliche Konfliktlinien anhand mehrerer Achsen, von Religion und Ideologie bis hin zu Ethnien. Zusätzlich verstärkt wird die Lage durch die Einflussnahme aus dem Ausland, wenn etwa Staaten treten als Schutzmacht ihrer Glaubensbrüder oder "westlicher Werte" auftreten. Am Ende warten Krieg, Chaos und Anarchie, die wiederum in einen neuen Totalitarismus münden. Wenig realistisch, aber durchaus in den Köpfen so mancher – der Schriftsteller Ilija Trojanow etwa führt den Erfolg von Serien wie "Walking Dead" (hier geht es schließlich darum, wie Menschen sich verhalten, wenn der dünne Schleier der Zivilisation fällt) oder Filmen wie "Die Tribute von Panem" (ein protofaschistisches System mit starkem Wohlstandsgefälle und strikten räumlichen Abgrenzungen) auf derartige diffuse Ängste zurück.
Conclusio
Freilich, zuverlässige Prognosen lassen sich im Allgemeinen nur schwer bis gar nicht treffen. Nur die wenigsten Ökonomen (etwa Roland Baader) haben die Wirtschaftskrise 2008 vorhergesehen, auch mit der Flüchtlingskrise hat anscheinend kaum jemand gerechnet, jedenfalls nicht in dieser Intensität. Oft sagen Ängste, aber auch Hoffnungen, mehr über die Zeit aus, in der sie getroffen werden. Früher war es die Angst vor einem Atomkrieg, heute ist es die Angst vor Chaos und Zusammenbrechen der öffentlichen Ordnung. Was jedoch nichts daran ändert, dass diese Szenarien oder Mischformen davon nicht vollends ausgeschlossen werden konnten beziehungsweise können. Wir befinden uns definitiv in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und das ist zumindest währenddessen äußerst unangenehm. Niemand will den hohen Lebensstandard hierzulande aufgeben. Es gilt, die richtige Balance zwischen Panikmache und Naivität zu finden.

Mittwoch, 13. Januar 2016

EU eröffnet Verfahren gegen Polen: Kommt jetzt ein Solidarisierungseffekt?

Es ist amtlich: Die EU (genauer gesagt die europäische Kommission) wird zum ersten Mal die Rechtsstaatlichkeit in einem EU-Mitgliedsland formal untersuchen. Offen bleibt, wie dieser Schritt beim polnischen Wahlvolk ankommt.
Die neue polnische Regierung und die von ihr getätigten Schritte stehen seit je her im Kreuzfeuer der Kritik. Begriffe wie "Staatsstreich", "neuer Nationalismus" und "Totalitarismus" stehen im Raum.
Für ein gewisses Mindestalter aufweisende politisch interessierte Österreicher werden Erinnerungen an die schwarzblaue Regierungsbildung der Jahrtausendwende wach. Zur Erinnerung: Die übrigen EU-Mitglieder beschlossen damals, die neu gebildete Regierung aufgrund der Beteiligung der damaligen Haider-FPÖ politisch zu isolieren (weswegen es sich um keine Sanktionen im eigentlichen Sinne handelte). Jörg Haider war damals schließlich eine der politisch brisantesten Figuren Europas (man erinnere sich nur an das Titelbild des Time-Magazins vom Februar 2000, auf dem sich sein Konterfei mit der Unterschrift "Should Europe Fear This Man?" befand), viele befürchteten einen Rückfall Österreichs in unsägliche Zeiten – "wehret den Anfängen" lautete die Devise. Bis heute ist vielen die Aussage des damaligen belgischen Außenministers Louis Michel in Erinnerung, dass Skifahren in Österreich "unmoralisch" sei und Belgier folglich ihren Urlaub stornieren sollten.
Viele Sozialdemokraten beziehungsweise, allgemeiner, Kritiker an der Regierungsbeteiligung der FPÖ waren froh über die Unterstützung aus dem Ausland. Darüber, nicht alleine gelassen zu werden. Die Angst vor einem radikalen Staatsumbau unter Missachtung fundamentaler Menschenrechte ging um.
Allgemein führten die "EU-Sanktionen" jedoch zu einem weitgehendenSolidarisierungsffekt mit der Regierung. Ein signifikanter Bevölkerungsanteil, darunter auch viele Gegner der FPÖ, empörte sich über die bis dato weitgehendste Einmischung in die innenpolitischen Angelegenheiten eines EU-Mitgliedslands. Darüber, im Ausland pauschal als "Nazis" diffamiert zu werden und auch über die moralische Erhabenheit, mit der viele ausländische Politiker auftraten. Nicht zuletzt, weil man sich in Österreich über die verbalen Entgleisungen Haiders beziehungsweise seiner Gefolgsleute gewöhnt hatte, während sie anderswo aufgrund ihrer Neuheit noch für Entsetzen sorgten. Letzten Endes war die schwarzblaue Regierung durch die Entscheidung des österreichischen Wahlvolks gedeckt (auch wenn Wolfgang Schüssel eigentlich angekündigt hatte, als Dritter in Opposition gehen zu wollen).
Gut möglich, dass die Reaktionen in Polen ähnlich ausfallen wie anno dazumal in Österreich. Einmischungen und Kritik von außen sind eine stets ambivalente Angelegenheit, auch für jene, die der eigenen Regierung nicht freundlich gesonnen sind. "Die EU" – das muss man gerade in Österreich nicht näher ausführen – gilt in ganz Europa so einigen als ein bürgerferner und bürokratischer Moloch. Dass etwa der für Medien zuständige EU-Kommissar Günther Oettinger als Deutscher davon gesprochen hat, "Warschau unter Aufsicht" stellen will, weckt bei vielen historische Assoziationen, die auch bereits entsprechend instrumentalisiert wurden. Man darf auf den Ausgang und die Effektivität des gegen Polen eingeleiteten Verfahrens folglich mehr als gespannt sein.